Whisper (German Edition)
hatte er sich gedacht, als er Jasmin gestern beobachtet hatte. Eisern, hart, nicht gewillt, sich über selbst auferlegte Prinzipien hinwegzusetzen. Sollte es ihn wundern? Dann hatte man ihm von zwei Raben erzählt, die ein seltsames Verhalten an den Tag gelegt hatten. Markus hätte seine Angst nie zugegeben, aber er hatte sie gesehen, in seinen Augen. Zwei Raben! Schließlich das Kitz, gefunden auf einem Schlachtfeld der unmenschlichen Jagd. Nicht irgendwer, sie hatte es gefunden und auch mitgenommen, hatte es getragen, den restlichen Weg lang. Kinsky hatte ihm noch erzählt, sie ins Bett getragen zu haben. Normalerweise trug dieser Mann seine ´Schüler` nicht ins Bett, sondern ließ sie liegen, wo sie waren, wenn die Müdigkeit sie übermannt hatte. Jasmin war eine Ausnahme. Kinsky machte sich nicht nur Sorgen um sie, sondern zerbrach sich den Kopf, wie er an sie herankommen sollte. Heute Morgen, als er das Kitz abgeholt hatte, hatte sie noch geschlafen. Man wollte sie nach dem Marsch, nach der extremen Belastung, nicht so früh aus dem Bett fischen, weswegen er das Kitz einfach … Moment mal. Er hatte das Kitz geholt, weggeholt und eine leere Box zurückgelassen. Jasmin hatte geschlafen. Niemand hatte ihr etwas gesagt, niemand darauf vorbereitet, und das Erste, was sie gesehen hatte, war … eine leere Box gewesen. Kino dämmerte, dass ihre Flucht vielleicht irgendwas mit dem Kitz zu tun hatte. Vielleicht nicht nur mit dem Kitz, sondern auch mit einem Pferd? Eine leere Box … keine Erklärung … ihr Handling um Tom herum. Pferde waren ihr nicht neu und trotzdem widerstrebte es ihr, in deren Nähe zu sein, sie anzufassen oder sie gar zu reiten. Es wäre so leicht gewesen, sie einfach zu fragen. Aber eine Antwort würde Kino nie bekommen. In diesem Zustand schon mal gar nicht, denn sie bemerkte ihn ja noch nicht mal wirklich.
Fast schon liebevoll strich Kino dem Mädchen einmal mehr durchs Gesicht, streichelte sanft ihre Wange.
„Begleitest du mich?“, fragte er leise und endlich bemerkte er die erste Reaktion. Sie senkte ihren Blick. Vorsichtig drückte Kino ihre Hand, übte einen sanften Zug aus.
„Ich muss dir etwas zeigen und das befindet sich nicht auf Six Soul. Glaub mir, du wirst dich darüber freuen.“
Die Starre wich etwas aus Jasmins Körper. Sie senkte den Kopf weiter und als Kino vermehrt an ihrer Hand zog, ließ sie sich willenlos hochziehen. Jasmin schwankte etwas, schien ihr Gleichgewicht nicht recht zu finden, weswegen Kino unverschämterweise seinen Arm um sie legte, ohne sich dabei etwas zu denken. Durch den zerrissenen Ärmel ihres Sweaters konnte er die vielen Narben erkennen, die sich auf ihrem Unterarm befanden. Wie schnell sie doch reagieren konnte, genau das zu verbergen. Flink hatte sie den Stoff etwas geordnet und vergaß nicht, den Daumen durch das jeweilige Loch am Bund zu schieben. Was musste er sich vorstellen, was denken? Was trieb Jasmin dazu, sich so zu verhalten, wie sie es tat?
„Ich habe dort drüben mein Pferd stehen, das wir mitnehmen müssen. Es ist nicht weit. Wir werden beide laufen, okay?“
Kino konnte sich die Verzweiflung der Eltern vorstellen, wenn Kinder auf einmal beschlossen, nicht mehr zu sprechen, sich nicht mehr mitteilen wollten und auch mit ihren Körpersignalen haushielten. Was musste in Jasmins Eltern vorgehen? Wie gingen sie mit der Situation um? Wie verständigten sie sich oder errieten gegenseitige Bedürfnisse? Hatten Menschen wie Jasmin überhaupt das Bedürfnis, ihre Wünsche zu äußeren, oder verzichteten sie darauf? Was immer dem Mädchen passiert war, es hatte sie nicht nur gezeichnet, sondern sie so werden lassen, wie sie war. Er wusste, dass sie ihn hörte und verstand, aber er durfte nur nie eine Reaktion erwarten oder gar glauben, einen Ton von ihr zu hören.
Kino ging mit ihr zu seinem Pferd, nahm die Zügel auf und ließ es einfach hinterhergehen. Jasmins Schritte waren unsicher. Sie ging eher vorsichtig und biss hin und wieder die Zähne zusammen. Natürlich schmerzten ihre Beine, nachdem sie gestern statt zu reiten, gelaufen war. Vermutlich waren ihre Füße wund und die übereilte Flucht von Six Soul hatte bestimmt nicht dazu beigetragen, die Schmerzen zu minimieren. Kino passte sich ihrem Tempo an und versuchte sie so gut es ging zu stützen. Nachzufragen, ob alles in Ordnung war, verkniff er sich. Nichts war in Ordnung. Die Frage konnte er sich selbst beantworten.
Sie waren noch keine halbe Stunde unterwegs, als sich vor
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