Whisper (German Edition)
geschlagen und nicht den Tau einer Ahnung, wo sich die Ranch befand. Irgendwo hinter ihr, hoffentlich weit weg. Das konnte sie nicht aus dem Konzept bringen. Zu tief war der Schmerz, der in ihrer Seele wohnte und alles in ihr zusammenquetschte. Fertig mit sich und der Welt setzte sich Jasmin auf einen Baumstumpf, vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und wiegte ihren Körper hin und her. Es war eine stumpfsinnige, unbewusste Bewegung, aber zu mehr war sie derzeit nicht in der Lage. Sie funktionierte noch nicht mal mehr. Sie war nur noch ein lebendes Etwas in einer für sie verlorenen Zeit.
Irgendwann trockneten Jasmins Tränen, und sie begann sich langsam zu beruhigen. Leise summte sie irgendeine Melodie, die ihr gerade einfiel, beobachtete nahezu hirntot die Vögel, die sich in ihrem Blickwinkel befanden, und zupfte aus getrockneten Tannenzapfen die einzelnen Blätter heraus. Entschieden weigerte sie sich, an irgendwas zu denken. Ihr Kopf war leer, und er blieb leer, da sie nicht mehr zulassen wollte. Sie hörte nur ihre eigene gesummte Melodie und die Geräusche der Natur um sie herum. Mehr gab es für sie nicht. Die Zeit sollte verrinnen, einfach nur verstreichen, zurück wollte sie nicht, und einmal mehr befand sie sich in diesem tiefen Loch der Sinnlosigkeit. Zu was war sie eigentlich noch da, wo sie sowieso niemand mochte. Sie war hässlich, abstoßend, andersartig, blöd, gaga, beknackt, bescheuert, schizophren, gab es sonst noch irgendwelche Ausdrücke, die auf sie zutrafen? Jasmin sank in sich zusammen, knipste ihre Umgebung aus und ließ sich in dieses tiefe Loch fallen, welches sie einkesselte und jede geistige Wahrnehmung verhinderte.
In diesem Zustand der halben Trance fand sie Kino. Der junge Mann war eigentlich durch den Wald geritten um illegale Fallen aufzuspüren und zu entschärfen, und hatte das zarte Summen vernommen. Neugierig war er der Melodie gefolgt und fand das Mädchen auf einem Baumstumpf sitzend vor, wie sie vor sich hin starrte und mit sich und der Welt abzuschließen schien. Kino ließ sein Pferd zurück, um sie nicht zu erschrecken und trat langsam näher. Er war laut, doch sie bemerkte ihn nicht, weswegen er in einem Blickwinkel auf sie zukam, aus dem sie ihn eigentlich sehen musste. Trotz aller Vorsicht reagierte sie spät, wurde kurzfristig noch blasser, als sie sowieso schon war, schien ihn aber zu erkennen. Kino ging vor ihr in die Hocke und versuchte einen Blick in ihr Gesicht zu werfen. Er erkannte, dass sie mächtig geweint haben musste. Schmutz und Tränen hatten eine interessante Dreckspur auf ihrer Haut hinterlassen. Der zerfetzte Sweater, die Zweige in ihren wirren Haaren, das Blut am Unterarm und an den Fingern … sie musste wie eine Irre durch den Wald gerannt sein, aus Angst oder Panik, aus purer Dummheit? Kino konnte es nicht sagen. Von der sicheren Ranch war sie viel zu weit weg. War sie wirklich den gesamten Weg gelaufen? Wusste sie überhaupt noch, wo sie war, oder hatte die Flucht sie hier raus getrieben?
„Jasmin?“
Keine Reaktion. Wie in völliger geistiger Abwesenheit starrte sie trüb vor sich hin.
Vorsichtig ergriff er ihre Hand. Irgendwann musste es doch eine Reaktion von ihr geben. Sanft drückte er ihre Finger, streichelte sie zart, um sowas wie ein beruhigendes Gefühl zu vermitteln.
„Jasmin“, versuchte er es ein weiteres Mal, doch auch diesmal reagierte sie nicht, weshalb er ihr ins Gesicht griff und ihren Kopf vorsichtig zu sich drehte, sodass er ihren Blick einfangen konnte. Das Mädchen blickte nicht an ihm vorbei, sondern starrte ihn aus klaren Augen an. Blickte sie etwa durch ihn hindurch? Kino überlegte kurz. Nein, sie stellte sich seinem Blick.
„Du bist weggelaufen!“, stellte er vorsichtig fest und erkannte nur eine Bewegung ihrer Augenlider als einzige Reaktion auf sein Handeln. Es war bemerkenswert, wie sehr sie sich in sich selbst verkroch. Was war auf der Ranch passiert? Was hatte ihre Flucht, und er ging von einer Flucht aus, ausgelöst? Hatte man sie wieder beleidigt? Reichte das schon, um eine Fluchtreaktion auszulösen? Oder hatte ihr einer der Jugendlichen etwas angetan, sie vielleicht angefasst, ihr wehgetan? Kino ahnte, dass man sich auf der Ranch furchtbare Sorgen um sie machte. Vermutlich suchte man sie bereits. Doch so tief im Wald? Wer sollte sie hier finden? Kino überlegte, was geschehen sein könnte. Susanna hatte ihm erzählt, dass Jasmin die gesamte Wanderung zu Fuß absolviert hatte. Ja, sowas in der Richtung
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