Whisper (German Edition)

sollte. Er wollte sie nicht mehr allein lassen. Besser gesagt, die Eingebung sagte ihm, er sollte sie nicht mehr allein lassen.
    Kino starrte zu seinem Großvater hinüber, aber der hatte seine Lektüre wieder aufgenommen, weswegen er vom Hocker rutschte und mit ein paar Schritten beim Telefon war. Zögerlich wählte er die Nummer der Kinskys. Es klingelte nur einmal. Kino atmete durch, als sich Susanna meldete.
    „Susanna, Jasmin ist hier bei mir!“
    Es folgte ein kleiner Aufschrei der Erleichterung. Kino konnte hören, wie sie quer durch das Zimmer rief, dass Jasmin aufgetaucht und in Sicherheit war. Natürlich war ihm klar, wie viel Sorgen man sich um das Mädchen gemacht hatte. Kurz erzählte er Susanna, wie und in welchem Zustand er Jasmin gefunden hatte und meinte, sie etwas später wieder nach Six Soul bringen zu wollen. Sein Vater war mit dem Pick Up unterwegs, und er wollte Jasmin nicht nochmal zumuten, endlos durch den Wald zu laufen. Susanna erzählte ihm dafür kurz, was Kinsky aus Judith herausgeholt hatte, mit der Drohung, sie wieder in den Teich zu werfen, sollte sie sich Jasmin nochmals in derart abwertender Form gegenüber verhalten. Natürlich hatte niemand mit dieser Reaktion gerechnet und Judith hatte auch nur vorgehabt, sie damit zu ärgern. Aber Kino hatte gesehen, welche Angst es ausgelöst hatte. Jasmin musste sich an etwas erinnert habe, was in ihrer Vergangenheit passiert war.
    Als er aufgelegt hatte, machte er sich wieder auf den Weg hinaus. Sein Pferd hatte sich von dem Bäumen in den Hof bewegt und wartete nun mit hängendem Zügel, dass ihm jemand den Sattel abnehmen und ihn versorgen würde. Kino schnappte sich den Wallach, sattelte ihn schnell ab und entließ ihn auf eine Koppel hinterm Haus. Dann machte er sich wieder auf den Weg in den Stall.
    Jasmin saß noch genauso im Stroh, wie er sie verlassen hatte. Das Kitz hatte sich über ihre Beine gelegt und ließ sich genussvoll streicheln. Kino genoss das Bild. Es zeigte soviel Harmonie zwischen dem jungen Tier und dem Mädchen. Etwas, was es nur noch allzu selten zu beobachten gab. Eine eigene Aura hatte sich über die beiden ausgebreitet, und diese beschreiben zu wollen, war faktisch unmöglich, weswegen Kino einfach das in sich aufsaugte, was ihm das Bild gab. Vorsichtig stieg er in den Verschlag und setzte sich zu ihr ins Stroh. Das Kitz sah ihn fast vorwurfsvoll an, bewegte sich aber nicht. Auch Jasmin rührte sich nicht, war wieder in ihr altes Muster der Gleichgültigkeit gefallen, obwohl Kino geneigt war zu glauben, dass das nur der äußere Schein war. Ihr Inneres nahm ihn ganz deutlich wahr, beobachtete ihn und registrierte ihn. Würde sie wieder mit ihm sprechen, oder war dieses einzige Wort, welches sie zu ihm gesagt hatte, nur eines gewesen, das aus tiefer Dankbarkeit heraus entstanden war?
    „Sie hat dich geärgert!“, meinte er leise und dabei gingen ihm die Worte seines Großvaters durch den Kopf. Es gibt ein Tier, das eng mit ihr verbunden war. Welches Tier mochte das wohl sein? Das Kitz? Nein, das war viel zu einfach. Das Kitz war nur der Beginn. Es sagte ihm, was für eine Mensch Jasmin war, denn Tiere achteten nicht auf die Hülle. Die Raben werden sie führen, der Grizzly beschützen. War Jasmin eine Rabegeborene? Der Grizzly war das Totemtier von Rabegeborenen. Markus hatte ihm von zwei Raben erzählt, die ihm unheimlich gewesen waren. Raben waren generell intelligent, anpassungsfähig und gesellig. Hatten sie wirklich beschlossen, sich mit Jasmin zu verbünden und sie zu leiten? Er würde es schon noch herausfinden.
    „Hast du irgendwann mal ein Tier verloren?“, fragte Kino, gewohnt keine Antwort zu erhalten. Er erwartete auch jetzt keine, hätte sich mit einem Kopfnicken oder Schütteln zufriedengegeben. Er zuckte jedoch wie unter einem Peitschenhieb zusammen, als sie plötzlich wieder ein einziges, leise und vorsichtig formuliertes Wort sagte.
    „Whisper!“
    Dabei senkte sie den Kopf und Kino spürte die tiefe Trauer, die sie überkam.
    Wer oder was war Whisper? Welche Bedeutung hatte diese Whisper in ihrem Leben gehabt? Was musste er sich vorstellen?
    „Wer war Whisper?“, fragte er deshalb nach, in der Hoffnung, sie würde ihm vielleicht wieder antworten, doch er bemerkte, dass leise Tränen über ihr Gesicht liefen und auf das gepunktete Fell des Kitzes tropften. Jasmin hatte die Augen geschlossen. Es bedurfte keiner Antwort, um zu wissen, dass Whisper eine große Bedeutung in ihrem Leben gehabt