Whisper (German Edition)
man von Weitem als Erdhaufen hätte bezeichnen können. Doch je näher sie kamen, desto besser war das dichte, braune, pelzige Fell zu erkennen. Andächtig ritten Jasmin und Kino heran, entdeckten Blutspuren auf aufgewühltem und zerkratztem Boden. Der Baumstamm links von ihnen war stark beschädigt, der Boden davor von einem im Panik arbeitenden Tier aufgeworfen. Nur einige Meter von der Stelle entfernt, lag der Kadaver. Riesengroß und von grau-brauner Farbe. Die Leiche eines Grizzlybären.
Die beiden stiegen ab, ließen die Pferde in angemessenem Abstand zurück und näherten sich langsam. Halb hinter Kino versteckt, konnte Jasmin nur den Rücken des Tieres erkennen, doch als sie freien Blick hatte, blieb sie nicht nur stehen, sondern wendete sich angewidert ab. Dem Bären fehlte der Schädel. Der Kadaver lag in einer riesigen Blutlache, was darauf schließen ließ, dass man ihn hier hatte ausbluten lassen. Einige Fliegen summten um das tote Tier und noch immer tropften vereinzelte Blutstropfen aus der mächtigen Fleischwunde am Hals. Auch Kino blieb für einen Moment stehen, um sich an den Anblick der Grausamkeit zu gewöhnen. Obwohl er Anblicke wie diesen kannte, gingen sie absolut nicht an ihm vorbei. Geldgier und Zerstörung, zwei Dinge, die hier ineinandergriffen. Wie abgestumpft musste man für das lebende Wesen sein, wenn man so etwas zustande brachte, ohne etwas zu empfinden. Mit einem Aufatmen umrundete Kino den Bären und betrachtete sich das gesamte Ausmaß menschlicher Brutalität. Man hatte das Tier ausgeweidet, um an die begehrte Gallenblase zu kommen, die Tatzen und den Kopf abgeschnitten, und den Rest liegenlassen. Vermutlich waren die Wilderer gestört worden, sonst hätten sie auch noch das Fell mitgenommen.
„Ein Grizzly“, stellte Kino leise fest, während er sich kurz neben das Tier hockte. „Grizzlys werden immer seltener, gehören teilweise auf die Liste bedrohter Tierarten, und hier wird einer wegen seiner Galle und um die Trophäen unter den Hammer zu bringen, niedergemetzelt.“
Jasmin starrte auf das Fell, welches sich leicht im Wind bewegte, auf die Beinstümpfe, das Fleischloch, wo normalerweise der Kopf hätte sein sollen.
„Er ist in eine dieser Bärenfallen getreten“, erklärte Kino weiter und deutete auf die Spuren am Boden und am Baum. „Dort hinten am Stamm hatte man die Kette befestigt. Der Bär, so groß und stark wie er ist, war hilflos gefangen. Den Spuren nach zu urteilen, dürfte er lange versucht haben, sich zu befreien. Die Schmerzen haben ihn rasend gemacht, sodass er gegen den Baum gekämpft hat. Überall Spuren. Sein Bein muss fürchterlich geblutet haben. Während wir beide dort oben am Rand der Welt waren, haben die Wilderer die Fallen kontrolliert, ihn gefunden, erschossen und sich dann über das hergemacht, was sie verwehrten können.“
Sanft legte Kino seine Hand auf das Fell, ließ seine Finger darin versinken, strich leicht darüber. Jasmin beobachtete sein Handeln und glaubte zu bemerken, wie Kino mit dem Kadaver sprach.
Die unmittelbare Umgebung des Bären sah furchtbar aus. Die Vorstellung, was das Tier bis zu seinem Tod durchgemacht haben musste, war widerlich und zeigte einmal mehr, zu was der Mensch fähig war. Die Spuren, die aufgewühlte Erde, Jasmin glaubte das Wesen fühlen zu können, welches hier gekämpft haben musste, bevor ein befreiender Schuss es von seinem Leid erlöst hatte. Und das alles des Schädels, der Tatzen und der Gallenblase wegen, deren Inhalt in asiatischen Ländern als Potenzmittel galt. Vorsichtig hockte sie sich nun ebenfalls neben den Bären, so, dass ihr der Anblick der Verstümmelung weitgehend erspart blieb. Mit etwas Fantasie stelle sie sich vor, er würde schlafen. Kino hatte noch immer seine Hand in dessen Fell und Jasmin entdeckte die kaum wahrnehmbaren Bewegungen seiner Lippen. Vorsichtig zögernd streckte sie ihre Finger aus, überlegte, was in ihr vorgehen würde, wenn … es fühlte sich harsch an, das Fell des Grizzlys. Doch je mehr Druck sie ausübte, desto weicher wurde es. In diesem Pelz hielten Bären ihren Winterschlaf. Es war unglaublich pelzig, dicht und nahezu undurchdringlich. Kein Wunder, dass diesen Tieren im Winter nicht kalt werden konnte.
„Wenn wir Indianer ein wildes Tier aus den Wäldern töten, dann töten wir es, weil wir sein Fleisch als Nahrung brauchen. Kino vermied es aufzublicken, sondern hatte für Momente die Augen geschlossen. „Früher lieferten sie alles, was man zum
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