Whisper Island (01) - Sturmwarnung
müssen, in einer kleinen Stadt oder einem Motel mitten im Nirgendwo. Vielleicht war sie auch längst auf der anderen Seite der Berge, in einer Gegend, wo es keine Handymasten gab. Spätestens in ein paar Stunden würde sich das Problem von selbst behoben haben. Und da sie jetzt satt, aufgewärmt und einigermaßen sauber war, konnte Becca sicher noch so lange warten.
In der frischen Morgenluft war es kalt und klamm. Bis sie diese Debbie treffen sollte, musste Becca noch ein paar Stunden totschlagen. Also beschloss sie, ein bisschen Fahrrad zu fahren, um sich aufzuwärmen und den richtigen Gebrauch der Gangschaltung zu üben, so wie Seth es ihr erklärt hatte. Außerdem wollte sie die Gegend erkunden. Nicht dass es in diesem Dorf viel zu erkunden gab, aber immerhin würde so die Zeit schneller vergehen.
Langley war mit San Diego nicht zu vergleichen, wo die Hügel mit Kreosotbüschen bewachsen und die Häuser alle beige gestrichen waren und rote Ziegel auf dem Dach trugen. Hier gab es nur Fischerhäuschen mit Schindelverkleidung und moosbewachsenen Dächern. Und überall standen Bäume, die wild wuchsen, ungehindert wucherten und gerade anfingen, ihr Laub zu verfärben, um bald in einer farbenfrohen Palette von Rot-, Orange-, Gelb- und Goldtönen zu erstrahlen.
Becca fand ihren anfänglichen Eindruck bestätigt, dass Langley eine Art Miniaturstadt war. Sie entdeckte ein gedrungenes Rathaus aus Ziegelsteinen, in dem gleichzeitig auch die Polizeiwache untergebracht war, eine Bücherei mit lilafarbener Eingangstür, einen Pizzabäcker, mehrere Restaurants, eine verlassene Kneipe mit Namen The Dog House und vier Coffeeshops, die miteinander konkurrierten.
Becca verweilte schließlich an dem Ort, an dem sie sich schon immer am wohlsten gefühlt hatte: die öffentliche Bibliothek. Sie sah durch die Fenster und beschloss, zu warten, bis sie öffnete. Dann würde sie sich ein gemütliches Plätzchen suchen und dort bleiben, bis es kurz vor eins war. Sie würde sich ein Buch nehmen und lesen, und das Flüstern der anderen würde sie nicht stören. Bibliotheksgeflüster hatte nämlich eine beruhigende Wirkung auf sie, da die Leser in Gedanken immer in die Welten der Bücher eintauchten, die sie gerade lasen.
Es war zwölf Uhr dreißig, als sie die Bücherei verließ und Seths gemalte Karte konsultierte. Sie sah, dass sie die Straße, auf der sie stand, bloß hinaufzufahren brauchte, denn die Bibliothek lag an der Ecke der Second Street. Verfahren würde sie sich also schon einmal nicht. Allerdings ging es wieder bergauf, und als sie das kleine weiße Haus erreichte, von dem Seth gesprochen hatte, keuchte sie wie eine Dampflok.
Das Haus war kleiner als alle, die sie bisher gesehen hatte, und hatte noch nicht einmal einen kleinen Garten vor der Tür. Der Platz vor dem Haus war stattdessen zertrampelt und wurde von den Leuten, die an dem AA-Treffen teilnahmen, als Parkplatz genutzt. Aber in der Nähe der Eingangstür, von der die Farbe abblätterte, stand ein verwitterter Picknicktisch mit Bänken. Becca stieg vom Rad ab und schob es zum Tisch. Dann setzte sie sich hin.
Es dauerte nicht lange, bis das Treffen zu Ende war und die Tür aufging. Ein Schwarm von Menschen strömte heraus. Einige zündeten sich Zigaretten an, andere unterhielten sich und lachten, aber keiner von ihnen beachtete Becca. Wieder andere umarmten sich oder weinten. Becca beobachtete sie und wartete.
Sie steckte sich den Kopfhörer der AUD-Box ins Ohr. Das schien ihr in dieser Situation angemessen, um den Leuten ihre Privatsphäre zu lassen, von der ihre Großmutter immer gesprochen hatte.
Die Menge löste sich langsam auf, aber keiner von den Leuten kam auf Becca zu. Sie verabschiedeten sich voneinander oder versprachen, später zu telefonieren, und bald war der Parkplatz menschenleer. Nur Becca war noch da, mit ihrem Rad, ihrem Rucksack und ihren Satteltaschen. Außerdem stand noch ein alter Geländewagen auf dem Parkplatz, der aber aussah, als hätte sein Besitzer ihn vergessen.
Sie dachte schon, dass Seth sich wohl geirrt haben müsse, und überlegte, was sie als Nächstes tun sollte, als schließlich die Tür aufging und eine Frau herauskam, die sich eine Zigarette anzündete. Sie machte einen mütterlichen Eindruck, war etwas übergewichtig, aber nicht fettleibig, und hatte weiche Brüste, in denen Kinder versanken, wenn sie sie an sich drückte. Sie hatte kurzes Haar, aus dem die Färbung herauswuchs und einen grauen Ansatz zurückließ, und
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