Whisper Island (01) - Sturmwarnung
großzuziehen. Deshalb hatte Ralph das Haus schließlich gebaut, und zwar mit seinen eigenen Händen. Jetzt stand es seit nunmehr zweiundvierzig Jahren behaglich in einer Senke des riesigen Grundstücks.
Als sie im Haus waren, zündete Ralph ein Feuer an und zeigte auf einen der beiden Sessel, die davorstanden. Er machte es sich auf dem anderen bequem und streckte die Füße auf einer aus Flusssteinen gefertigten Kaminplatte aus.
Seth setzte sich zu ihm. Er sah sich in dem Zimmer um, das er schon sein ganzes Leben lang kannte, und stellte fest, dass es keinen einzigen Gegenstand enthielt, den sein Großvater nicht selbst hergestellt hatte. Alles außer einem Bilderrahmen auf dem Kaminsims mit einer Fotografie, auf der Seth, seine Eltern sowie Ralph mit Seths Schwester bei ihrer Abschlussfeier an der South Whidbey High posierten. Während Seth das Bild betrachtete, fiel ihm wieder ein, dass Hayley dieses Foto gemacht hatte. Aber das war ein ebenso wunder Punkt wie die Tatsache, dass seine Schwester Sarah mit einem Stipendium in Stanford studierte, während er hier sein Leben als frischgebackener Ganove der Familie fristete.
Seth seufzte. Ralph schaute ihn an und wartete. Er konnte sehen, was Seth betrachtete, und wusste, dass der Stachel, vom Schicksal nicht mit denselben Gaben bedacht worden zu sein wie seine ältere Schwester, tief saß.
Schließlich sagte Seth: »Als ich auf der Bildfläche erschienen bin, waren die intelligenten Gene wohl schon alle aufgebraucht.«
»Was meinst du damit?«, fragte Ralph.
»Ich meine Sarah. Nach ihr hat’s für mich nicht mehr gereicht. Es ist so, als wäre ich das Truthahnsandwich und sie das Thanksgivingessen.«
Ralph lachte in sich hinein. »Die meisten mögen das Thanksgivingessen nur wegen der Sandwiches, die es später gibt«, erwiderte er.
»Du weißt schon, was ich meine, Grandpa. Manchmal habe ich einfach die Nase voll.«
»Wovon?«
»Davon, der Versager der Familie zu sein.«
»Siehst du das so?«
»Wie sonst?«
Ralph nickte und dachte ein paar Augenblicke darüber nach, während das Kaminfeuer knackte und knisterte. Dann schlug er mit den Händen auf die Armlehnen seines Sessels und stand auf. »Komm mal mit, Junge«, sagte er.
Ralph marschierte zur Tür, wo er sich seine alte Jeansjacke und eine Taschenlampe schnappte. Seth drückte er eine zweite Taschenlampe in die Hand. Er ging raus und fing an, auf den Wald zuzulaufen.
Oh-oh, dachte Seth. Er musste sich um Gus kümmern. Er musste seinen VW holen. Aber er kannte seinen Großvater zu gut. Wenn Ralph sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte Seth nichts tun, um ihn davon abzubringen, und das war jetzt der Fall. Daher trottete Seth hinter ihm her.
Ralph stapfte zum Wald hinter seinem Haus und auf einen Weg zu, der zwischen den Bäumen verschwand. Der Weg war nicht mehr als ein schmaler Trampelpfad, den Ralph durch dichte, wild wuchernde Vegetation gehauen hatte. Tiefer im Wald kamen sie zu einem zweiten Weg. Dem folgten sie und schlugen dann noch einen dritten Weg ein. Da wusste Seth, wohin sein Großvater ihn führte, auch wenn ihm noch nicht klar war, warum.
Es war eine Lichtung, die ungefähr so groß war wie vier Parkbuchten. Auf ihr waren zwei Hemlocktannen so nah aneinandergewachsen, dass sie mit ihren Ästen ein V bildeten. In diesem V befand sich ein Baumhaus.
Und gegenüber vom Baumhaus stand auf der Lichtung eine alte, aus einem Baumstamm gehauene und von Flechten überwucherte Bank.
Als sie die Stelle erreichten, setzte sich Ralph auf die Bank. Seth gesellte sich zu ihm und beide richteten den Schein ihrer Taschenlampen auf das Baumhaus, das eineinhalb Meter über dem Boden schwebte und über eine Leiter zugänglich war.
Es war kein gewöhnliches Baumhaus. Es hatte eine Aussichtsterrasse und zwei verglaste Fenster, die man öffnen konnte. Aus seinem Metalldach ragte ein Metallschornstein mit einem Schutzgitter, was auf einen Kaminofen im Innern des Hauses schließen ließ.
Ralph zeigte auf die Hütte und sagte: »Das hier, mein Junge, ist nicht das Werk eines Familienversagers.«
»Ich sollte es öfter benutzen«, entgegnete Seth. »Ich habe dir damit zu viel Arbeit gemacht, um dann nichts damit zu machen.«
»Das Wichtige war nie, es zu benutzen, sondern es zu bauen. Schau es dir an, Seth. Darin steckt eine Menge künstlerisches Geschick, und der Künstler warst du.«
»Nein, war ich nicht. Du hast mir gezeigt, was ich tun muss.«
»So fangen wir alle an. Wissen wird
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