Whisper Island (01) - Sturmwarnung
diese Typen sich für Alexander Graham Bell hielten und das Telefon erst noch erfinden mussten. Schließlich kam ein anderer Polizist herein, der im Vergleich zu seinem Kollegen so aussah, als hätte er es mit dem Gewichtheben in seiner Garage etwas übertrieben.
»Ich warte immer noch darauf, dass ich meinen Anruf machen darf«, sagte Seth zu ihm.
Der Polizist erwiderte: »Die Dinge haben sich geändert. Der stellvertretende Sheriff ist unterwegs hierher. Er wird mit dir sprechen wollen.«
»Warum? Habt ihr Typen nichts Besseres zu tun? Hier geht’s um einen unbezahlten Strafzettel. Na schön, zwei Strafzettel. Aber was ist das hier? Der größte Polizeieinsatz, den Whidbey Island je gesehen hat?«
»Wir haben einen Tatort zu untersuchen, Kleiner«, erklärte der Polizist. »Er will mit dir darüber reden.«
Einen Tatort? Seth schluckte schwer. Mit so viel Überzeugung wie nur möglich sagte er: »Ich bin gerade erst von den Saratoga Woods hierhergekommen. Fragen Sie diesen Picarelli. Er hat mich hergebracht. Wie soll ich da ein Verbrechen begangen haben?«
»Eben dort ist das Verbrechen begangen worden«, erklärte ihm der Deputy.
Zwei weitere Stunden vergingen. Seth verließ den Verhörraum nur ein Mal, um aufs Klo zu gehen, erfuhr aber nichts Neues. Das Einzige, das er mit Sicherheit wusste, war, dass er in Schwierigkeiten steckte.
Schließlich gestatteten sie ihm seinen Anruf. Liegt wohl daran, dass der stellvertretende Sheriff aus irgendeinem Grund nicht aufgetaucht ist, dachte er. Darüber war Seth ein wenig erleichtert. Wenn sich der stellvertretende Sheriff so wenig für ihn interessierte, konnte er ihn doch kaum eines Verbrechens verdächtigen, oder?
Was den Anruf betraf, so hatte Seth sich entschieden, wen er anrufen wollte. Da seine Eltern das Geld für seine Kaution nicht aufbringen konnten, sollten sie sich auch nicht den Kopf darüber zerbrechen müssen, ob sie sich das Geld irgendwo leihen oder ihren einzigen Sohn in einer Gefängniszelle mit einer Decke, einem Kissen und einer auf Beton zusammengerollten, dünnen Matratze schmoren lassen sollten. Stattdessen rief er seinen Großvater Ralph Darrow an. Es würde eine Weile dauern, bis er Coupeville mit dem Wagen erreichte, aber Seth wusste, dass er das nötige Geld mitbringen würde, um ihm aus der Patsche zu helfen, weil das einfach Ralphs Charakter entsprach.
Sein Großvater ließ nicht lange auf sich warten. Er musste seinen alten Ford bis an die Grenzen seiner Belastbarkeit gepeitscht haben, und als Seth seinen Großvater sah, bereute er, dass er ihm nicht gesagt hatte, sich Zeit zu lassen. Aber das war nicht Ralphs Art, wenn es um Familie ging. Ebenso wenig war es seine Art, Vorträge zu halten oder Vorwürfe zu machen.
Stattdessen strich sich Ralph, als er und Seth sich gegenüberstanden, über seinen grau melierten Schnurrbart und ging auf den Jungen zu. Er legte ihm die Hand in den Nacken und sagte: »Lieblingsenkelsohn, du bringst ein wenig Spannung in mein Leben. Hast du irgendwas zu sagen?«
»Nein«, erwiderte Seth.
Auf dem Weg von Coupeville zurück zur Newman Road, wo Ralph wohnte, sprachen sie kein Wort. Es war dunkel und er konzentrierte sich gern beim Fahren. »In meinem hohen Alter ist ein Wildunfall das Letzte, was ich brauche«, sagte er immer.
Ralph redete gern wie ein alter Insel-Hase, der er irgendwie auch war. Aber darüber, was er sonst noch war, redete er nie: Absolvent der Universität von Stanford, Doktorand des California Institute of Technology und Kernphysiker. Er hatte jedoch festgestellt, dass er lieber mit seinen Händen arbeitete als mit dem Kopf. Nach nur wenigen Jahren draußen in der Welt, die vom Berufsverkehr auf kalifornischen Autobahnen und langen Arbeitszeiten im Labor bestimmt gewesen waren, hatte es ihn zurück nach Whidbey Island gezogen, wo er ein neues Leben als Schreinermeister begonnen hatte.
Sein Haus stand auf der Ostseite der Newman Road. Diese bildete einen Halbkreis, der an der Bundesstraße seinen Anfang nahm und an dem Weg ins Stadtzentrum von Freeland endete. Ein holpriges Stück Straße führte zu seinem Grundstück. Es war absichtlich nicht gepflastert, weil Ralph Straßenpflaster nicht ausstehen konnte. Wenn es ganz nach ihm gegangen wäre, hätte er den Boden völlig unberührt gelassen und noch nicht mal ein Haus darauf gebaut. Aber das war lange vor dem Tod seiner Frau gewesen, und Seths Großmutter hätte niemals in Betracht gezogen, ihre Kinder in einem Zelt
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