Whisper Island (01) - Sturmwarnung
versäumt hatte, zwei Strafzettel für zu schnelles Fahren zu bezahlen. Den ersten hatte er bekommen, weil man ihn mit knapp hundertzwanzig Sachen auf der Bundesstraße 525 erwischt hatte, und beim zweiten war er mit hundert über die Langley Road gebrettert. In beiden Fällen hatte er versucht, noch rechtzeitig die Fähre zu erreichen. Aber auf der Insel nahm die Polizei so etwas sehr ernst. Sie hatte etwas gegen Raser, und erst recht gegen die, die ihre Bußgelder nicht bezahlten, wenn man sie erwischte.
Seth hatte die Bußgelder völlig vergessen. Er sagte: »Hey, ich kann doch jetzt noch bezahlen«, obwohl er gerade einmal fünf Dollar und achtunddreißig Cent bei sich hatte.
Man erklärte ihm höflich, dass es nicht so einfach sei, jetzt, da die Dinge schon so weit fortgeschritten waren und bereits ein Haftbefehl gegen ihn erlassen worden war. In diesem Fall betrage die Kaution tausend Dollar, die er natürlich gerne bezahlen könne, wenn er wolle. Andernfalls würde er die Nacht im »Hotel Einzelzelle« verbringen und könne dem Richter in Oak Harbor morgen per Videokonferenz erklären, warum er meinte, seine Bußgelder nicht bezahlen zu müssen.
»Aber ich hab’s vergessen, ich hab’s nur vergessen!«, beteuerte er, was ihn nicht weit brachte. Nur in den Verhörraum, in den er gesperrt wurde und wo er, so sagte man ihm, »seine Möglichkeiten abwägen« könne.
Der Verhörraum war in einem Gelb gestrichen, das an dreckige Bananenschalen erinnerte. Darin waren ein Tisch, ein Stuhl, ein Hocker und ein riesiges Panoramafenster mit Ausblick auf eine Reihe von Monitoren sowie auf den Polizisten, der dafür zuständig war, sie im Auge zu behalten. Dass es ebenfalls zu seinen Aufgaben gehörte, Seth im Auge zu behalten, wurde ziemlich offensichtlich, als er Seth von seinem Platz aus zuwinkte, mit der Hand erst eine verneinende Geste machte und dann so tat, als würde er an einem Strick um seinen Hals ziehen. Seth interpretierte dies als Warnung, sich nicht zu erhängen, während er im Verhörraum eingesperrt war. Kein Problem, dachte Seth. Er hatte sowieso nichts, mit dem er das hätte bewerkstelligen können, es sei denn, er benutzte seine Socken.
Er setzte sich auf den Hocker und nicht auf den Stuhl, so wie man es ihm gesagt hatte. Dann legte er die Arme auf den Tisch, stützte den Kopf in die Hände und fragte sich, wie es jetzt weitergehen würde. Seine Eltern würden über seinen momentanen Aufenthaltsort alles andere als begeistert sein.
Als er die Bombe hatte platzen lassen, dass er die South Whidbey Highschool verlassen wollte, hatten sie zunächst angenommen, Seth würde lieber die alternative Schule besuchen, die in Bayview Corner in einem Schulhaus aus dem Jahre 1895 untergebracht war. Als er dann die noch größere Bombe platzen ließ, dass er überhaupt nicht mehr vorhatte, zur Schule zu gehen, waren sie nicht in Panik geraten, so wie andere Eltern es getan hätten. Sie kannten seine Lernbehinderungen. Sie kannten sein Talent und seine Leidenschaft für die Gitarre. Sie waren selbst Künstler. Deshalb hatten sie ein ernstes Gespräch mit ihm geführt und ihm ihre Bedingungen für das neue Leben genannt, das er für sich ausgesucht hatte: ein Nachhilfelehrer, der ihm helfen sollte, seine Berufsbefähigungsprüfung auf dem zweiten Bildungsweg zu machen, ein Nebenjob und regelmäßige Proben mit dem Trio, mit dem Seth in den vergangenen vier Jahren Gypsy-Jazz à la Django Reinhardt gespielt hatte. Bisher war es ihm gelungen, zwei der drei Bedingungen zu erfüllen: Er hatte den Job im Star Store und probte und trat regelmäßig mit dem Trio auf. Mit der ersten Bedingung tat er sich jedoch unglaublich schwer.
Seine Eltern wussten das nicht. Sie gingen davon aus, dass er die Zeit, in der er nicht bei der Arbeit war, mit Lernen und Gitarrespielen verbrachte. Daher wollte er die Aufmerksamkeit seiner Eltern nicht mehr als unbedingt nötig auf sich lenken, und das bedeutete, dass sie auf keinen Fall erfahren durften, dass er im Bezirksgefängnis saß. Als Künstler konnten sie es sich sowieso nicht leisten, die Kaution für ihn zu zahlen, ebenso wenig wie seine Bußgelder.
Nach etwa zwanzig Minuten ging die Tür auf. Seth blickte auf und sagte: »Ich hab das Recht auf einen Anruf. Ich möchte jemanden anrufen.«
Der Deputy sagte: »Willst du eine Cola oder ein Sandwich?«
Seth wiederholte: »Ich möchte jemanden anrufen.«
Der Deputy nickte und ging. Seth wartete. Nach einer Weile fragte er sich, ob
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