Whisper Island (01) - Sturmwarnung
auszusprechen.
»Es gibt Dinge in meiner Vergangenheit, von denen ich mich nicht mehr beeinflussen lassen darf. Manchmal vergesse ich das, und dann passiert es doch. Aber du kannst nichts dafür. Ich hätte es nicht an dir auslassen dürfen.«
»Das ist schon in Ordnung.« Becca wünschte, sie hätte ihre AUD-Box nicht eingeschaltet, weil sie sehen konnte, dass Debbie jetzt Sachen durch den Kopf gingen, die ihr hätten helfen können zu verstehen, was los war. Sie erkannte es daran, dass sich Debbie, wie jedes Mal, wenn es um persönliche Dinge ging, eine Zigarette anzündete.
Sie sagte zu Becca: »Du musst Seth Darrow aus dem Weg gehen, Liebes. Du musst mir da einfach vertrauen. Ich kenne ihn. Es gibt Seiten an Seth … Du musst ihm einfach aus dem Weg gehen, okay?«
»Grandma!« Chloe stand an der Tür zum Büro. Sie sah, wie sich Debbie und Becca unterhielten, und sagte: »Warum hast du heute nicht mit uns gefrühstückt, Becca? Es gab Pfannkuchen und Würstchen. Warum bist du nicht gekommen?«
»Ich war zu spät dran«, rief Becca ihr zu. »Ich muss zur Schule.«
»Du kommst auch noch zu spät, wenn du nicht gleich einen Zahn zulegst«, ermahnte Debbie ihre Enkeltochter.
»Josh hat meine Unterwäsche versteckt.«
»Sag deinem Bruder, wenn er deine Unterwäsche nicht sofort rausrückt, ziehe ich ihm meine über seine Kleider.«
Chloe lachte und flitzte zurück ins Büro. Man hörte, wie sie den Namen ihres Bruders rief.
Debbie sagte zu Becca: »Ich kann dein Handy für dich zurückbekommen. Ich kenne den stellvertretenden Sheriff recht gut.«
Becca wusste, dass das nicht passieren durfte. Wenn Debbie das Telefon zurückholte, würde die Spur direkt zu Becca führen. Eine Spur bedeutete Fragen. Fragen bedeuteten Antworten.
Sie sagte: »Das brauchen Sie nicht. Es war ein Wegwerftelefon und hatte nur noch eine Minute Sprechzeit drauf. Ich wollte es in den Abfall werfen, aber in der ganzen Aufregung habe ich es wahrscheinlich fallen lassen.«
»Soll ich dir ein neues besorgen?«
Becca schüttelte den Kopf. Das hatte wenig Sinn. Die Polizei hatte das Telefon, das sie brauchte, mit der eingespeicherten Nummer ihrer Mutter. Aber trotzdem durfte sie dieses Telefon momentan nicht in ihre Nähe lassen. Ihre Augen wurden feucht und sie blinzelte heftig und schnell.
»Das ist wirklich nett von Ihnen, aber es ist nicht nötig. Ich kenne sowieso niemanden, den ich anrufen könnte.«
Debbie legte den Kopf schief. Sie erwiderte: »Du kennst mich , Liebes. Was letzte Nacht passiert ist … es tut mir wirklich leid.«
Becca radelte, so schnell sie konnte, zur Schule. Die Strecke war größtenteils eben, sodass die Fahrt nicht besonders anstrengend war. Dennoch merkte sie, dass es mit dem Radfahren jeden Tag besser klappte.
Kurz vor der ersten Schule, die sie auf ihrem morgendlichen Weg immer passierte, sah sie linker Hand auf der anderen Seite der Straße etwas Weißes aufblitzen. Sie sah es nur aus den Augenwinkeln und drehte den Kopf, um zu sehen, was es war, so tief verborgen im dunklen Grün des Waldes. Das war ihre erste Begegnung mit dem weißen Hirsch. Einen Augenblick lang stand er da wie eine Marmorstatue, mitten auf einem ausgefahrenen Weg. Bei seinem Anblick schnappte Becca nach Luft und stieg auf die Bremse. Ein weißer Hirsch. Er beobachtete sie.
Dann war er weg, in einem Sprung, mit dem er mühelos zwischen den Bäumen verschwand. Er war so schnell, dass Becca dachte, sie hätte ihn sich möglicherweise eingebildet. Ein durch die Bäume fallender Sonnenstrahl vielleicht. Oder ein altes Laken, das von einem Ast hing. Aber tief in ihrem Innern wusste sie, dass es der Hirsch gewesen war, und erinnerte sich daran, was Josh ihr darüber erzählt hatte. Dem weißen Hirsch zu begegnen kündigte große Veränderungen an.
Bei der South Whidbey High rollte sie im Leerlauf auf den Parkplatz. Sie hievte sich ihren Rucksack auf die Schulter und steuerte auf die sechs Doppeltüren zu, durch die sie neben den neuen Gemeinschaftsraum gelangte.
Ein Polizeiwagen fuhr an ihr vorbei. Sie zog den Kopf ein. Dass ein Polizist in die Schule kam, konnte so ziemlich alles bedeuten, aber nach dem, was mit Derric passiert war, wusste Becca, dass die Anwesenheit eines Cops nichts Gutes verhieß.
Sie schaltete die AUD-Box aus und nahm den Kopfhörer aus dem Ohr. Vielleicht verrät mir das Flüstern der anderen, was los ist, dachte sie. Von überall prasselten Gedanken auf sie ein, ausgelöst durch das, was die anderen
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