Whisper
vorne gestreckt. Siehst du ihn?«
Noa nickte. Ja, sie sah ihn, er war so nah, dass sie meinte das Rauschen seiner Flügel im Wind zu hören. Sie musste daran denken, wie sie als Kind in die Wolken geschaut und Fabelwesen in ihnen gesucht hatte. Feuer speiende Drachen, geflügelte Pferde, tanzende Meerjungfrauen, die dann langsam vom Wind in immer neue Formen verwandelt wurden. Aber noch nie hatte sie auf diese Weise in die Sterne geschaut.
»Woher weißt du das alles?«, fragte sie David. »Woher kennst du all diese Namen?«
»Von meinem Vater.« Davids Stimme war leise geworden. »Früher, vor Krümels Geburt, hat er mich manchmal nachts geweckt und ist mit mir hierher gekommen. Manchmal haben wir bis zum Morgengrauen hier oben gesessen. Mein Vater konnte im Himmel lesen wie in einem Buch, er kannte die Namen aller Sternbilder und irgendwie haben sie sich bei mir eingeprägt. Als er uns verlassen hatte, hätte ich am liebsten alles vergessen, aber es ging nicht. Dieser Anblick macht süchtig, mich jedenfalls, und manchmal denke ich, es gibt keinen Ort, an dem ich lieber wäre, als irgendwo dort oben. Nachts bin ich weggelaufen, um alleine herzukommen und zu meinem dreizehnten Geburtstag hat Esther mir dann das Teleskop geschenkt.« David legte seine Hand auf das Objektiv und strich zärtlich über die glatte Fläche. »Ich schätze mal, für dieses Teil hat sie ihre halben Ersparnisse weggegeben.«
»Und dein Vater?«, fragte Noa. »Siehst du ihn noch manchmal?«
»Nein.« David zog seine Hand von dem Objektiv zurück. »Einmal, da hat er angerufen, kurz nachdem er eine Wohnung in Köln gefunden hat. Er wollte mich fürs Wochenende zu sich holen. Aber als ich sagte, ich komme nur mit Krümel, hat er aufgelegt. Danach war Sense.«
»Hat er …« Noa schluckte. »Hat er euch wegen Krümel verlassen?«
»Themenwechsel.« Hart klang Davids Stimme jetzt, aber Noa verstand ihn sofort. Sie selbst sprach auch nicht gerne über ihren Vater – den Samenspender, wie Kat ihn nannte. Was sollte man auch über jemanden sagen, den man nicht kannte? Alles, was Noa über ihren Vater wusste, war, dass er Jude, Musiker und irgendeine Nummer am Anfang einer langen Liste von Kats Affären war. Was in seinem Fall dabei herausgekommen war, hatte Kat ihm nie verraten. Sie hatte Noa alleine großgezogen, oder besser gesagt, sie mitlaufen lassen, irgendwie.
Noa schob das Objektiv ein Stück weiter. »Der helle Stern dort links. Ist das der Abendstern?«
»Ja, das ist die Venus. Ein Planet, um genau zu sein. Man hat sie nach der römischen Göttin der Liebe und Schönheit benannt, weil sie das strahlendste Objekt am Nachthimmel ist. Gegen sie verblassen alle anderen.«
Noa nickte. »Sie ist wunderschön«, flüsterte sie.
»Von hier aus ja«, erwiderte David. »Schon immer hat sie die Astronomen mit ihrer Schönheit geblendet. Früher glaubte man, die Venus gliche einer dampfigen, sumpfigen Gegend der Erde und wäre vielleicht sogar mit Lebewesen bevölkert. Andere Astronomen stellten sich eine Sandwüste auf ihr vor. Aber in Wirklichkeit ist sie ein Alptraum. Ein Höllenplanet, auf dem selbst die Felsen glühen. Ihre Atmosphäre besteht aus giftigem Kohlendioxid, das dich erdrückt, und an ihren Himmeln hängen Wolken aus Schwefelsäure. Ich nenne sie den bö-sen Zwilling der Erde.«
»Glaubst du«, fragte Noa, ohne ihren Blick vom Teleskop zu lösen, »glaubst du, dass wir die einzigen Lebewesen im Universum sind?«
»Ich habe keinen Schimmer. Ich weiß nur, dass unser Universum seit 13 Milliarden Jahren existiert und dass wir Menschen nicht das Maß aller Dinge sind – im Entferntesten nicht. Weißt du, wie viele Sterne es allein in unserer Galaxis gibt? 400 Milliarden. 400 Milliarden Sterne. Und von dort aus betrachtet«, Davids Finger zeigte nach oben, »ist unsere Erde weniger als ein Staubflusen. Eines Tages werden wir verlöschen, ohne dass dort oben ein Hahn nach uns kräht, das ist jedenfalls meine Wahrheit.«
Noa schob das Teleskop zur Seite und legte den Kopf in den Nacken. Die Stadt ließ die Dunkelheit nicht zu, die den Himmel zum Strahlen brachte. Die Stadt konzentrierte sich auf ihre irdischen Stars und einen Himmel wie diesen kannten die meisten Jugendlichen höchstens aus dem Planetarium. Aber Gilbert hatte Noa manchmal von den Sternen erzählt, früher, wenn Kat auf irgendeiner Party war und Gilbert Noa ins Bett gebracht hatte.
»Gilbert glaubt, dass unsere Seelen zu den Sternen fliegen, wenn wir tot sind.
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