Whisper
wieder erpresst, Robert. Antworte mir! Robert! Bist du da? Bist du … allein?«
Angst schwang in der Stimme von Davids Mutter mit, als habe sie erst jetzt begriffen, dass Robert möglicherweise nicht allein war, dass jemand – Kat? – bei ihm sein mochte, dass es gefährlich war, hier zu stehen und nach ihm zu rufen, sich zu verraten. Gefährlich und dumm.
Der Schatten verschwand. Es wurde wieder still.
Es dauerte lange, bis Noa und David die Kraft fanden, sich zu lösen, bis sie die Kerzen wieder anzündeten und weiter durch den Raum gingen, ohne zu wissen, wonach sie noch suchten. Und dennoch fanden sie etwas, oben in Roberts Schlafzimmer, in dem einzigen Möbelstück neben dem noch zerwühlten Bett –dem kleinen Nachttisch. In seiner Schublade lag ein Foto von zwei Jungen. Alt und zerknickt war es und sah aus, als hätte man es aus einem Album herausgerissen. Auf der Rückseite klebten noch Fetzen des Papiers, auf dem es einst geklebt hatte, und auf der Vorderseite verrieten die Fingerabdrücke auf dem noch immer matt glänzenden Bild, dass jemand das Foto oft in die Hand genommen hatte. Es hat etwas Zerliebtes, dachte Noa. Die beiden Jungen standen dicht nebeneinander, der größere, vielleicht siebzehn- oder achtzehnjährige, war eindeutig Robert. Schwarzhaarig, mit dunklen, eng beieinander stehenden Augen und seinem schwarzen Muttermal. Er hatte sich kaum verändert. Sein Arm lag schützend auf den Schultern des kleineren, etwa fünfzehnjährigen Jungen; einem prallen, rundgesichtigen Burschen, der in die Kamera grinste, während Robert ernst und verschlossen aussah. Die Augen des kleineren strahlten und waren rund, so rund wie Murmeln. Ja, es war die Form der Augen, die Gustaf verriet – aber das war es nicht, was Noa aus der Fassung brachte. Es war die Form seiner Ohren. Sie standen vom Kopf ab.
Es waren Segelohren.
Der Junge auf dem Bild, der zweifellos Gustaf war, war Dumbo.
DREIUNDZWANZIG
Mein Vater gibt ihm das Geld, ich kann es nicht fassen! Er gibt ihm das Geld und begleitet ihn, als WÄRE Dumbo sein Sohn. Für mich bleibt er Dumbo – und mein Vater würde sich wundern, wenn er wüsste, wie nett ich sein kann! Ich öffne meine Bluse, bis zu der Stelle, an der mein Schlüssel hängt. Ich flüstere: »Hier ist der Schlüssel zu meinem Juwel. Willst du ihn berühren?« Dumbo wird feuerrot und ich frage mich, wen er jetzt mehr vergöttert: den lieben Onkel Doktor oder seine böse Tochter?
Eliza, 15. August 1975
Ü ber dem Friedhof ging die Sonne auf, ein glutroter Feuerball, der den Himmel in Flammen setzte. Bizarre Streifen durchzogen das kühle Morgenblau und die Luft war so klar, dass man sie hätte trinken mögen.
Noa machte Bilder, eins nach dem anderen. Es war eine schlaflose Nacht gewesen, wieder einmal. Zwischendurch war Noa immer wieder in einen Schwebezustand hinübergeglitten, in dem sie nicht mehr wusste, was Wirklichkeit und was Traum war; ein Zustand, in dem sie auch die Schritte, die über ihr auf dem Boden ertönten, nicht mehr bewusst wahrnahm.
Als am Saum des Himmels ein weißer Streifen aufgetaucht war, hatte sich Noa aus dem Bett gequält, ihre Kamera geschnappt und war nach draußen gegangen, den Feldweg hinauf zum Friedhof, allein mit sich und ihren Gedanken.
Nachdem David und Noa gestern Nacht aus der Mühle geschlichen waren, hatte David sie noch bis zum Haus begleitet und sich dann von ihr verabschiedet, ohne Kuss und seltsam distanziert. Noa hatte hinter ihm hergesehen, bis er mit der Dunkelheit verschmolzen war. Längst waren im Dorf die Laternen ausgegangen und Noa hatte sich genauso gefühlt. Als wäre in ihr selbst ein Licht ausgegangen. Dabei verstand sie David nur allzu gut, wusste, wie ihm zu Mute war, ohne dass er etwas dazu hätte sagen müssen. Gustaf war ein Stück Familie für ihn, gewissermaßen sogar ein Vaterersatz, und jetzt rückte er in den Mittelpunkt eines Verbrechens. Eines Mordes – in den vielleicht auch Marie, Davids eigene Mutter, verwickelt war. Ihr Schatten am Fenster, die Angst in ihrer Stimme, ihre leisen Worte. Er hat mich erpresst.
Was hatte Marie damit gemeint? Wen hatte sie damit gemeint? Thomas Kord, den Schlachter? Noa musste daran denken, wie er sie auf dem Dorffest an der Schulter gepackt hatte. Das Stück Papier, das Marie ihm in die Hand gedrückt hatte, war es wirklich Geld gewesen? Blutgeld? Aber warum hatte der Schlachter sie erpresst? Warum sie, wenn doch Dumbo der Mörder war? Aber war Dumbo der Mörder?
Erst jetzt
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