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Whisper

Whisper

Titel: Whisper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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lohnte sich das alles überhaupt? Jetzt ließen sich ihre quälenden Gedanken nicht länger zurückdrängen. Was, wenn Robert früher zurückkam? Selbst Kat hatte vorgestern Abend gesagt, dieser Mann hatte etwas Unberechenbares, und der tintenschwarze Blick, den Robert Noa zum Abschied an der Haustür zugeworfen hatte, war fast unheimlich gewesen. Als Noa die Schiebetür zum Erker aufschob, lag ihr die Angst wie Blei im Magen.
    Die bemalten Leinwände lehnten noch immer übereinander an der Wand, das flackernde Kerzenlicht ließ die abstrakten Zeichnungen noch wilder erscheinen, wüst und beängstigend in ihren aggressiven Farben und ineinander verschachtelten Formen.
    Auch das Bild, das Kat aufgeklappt hatte, war noch an seinem Platz: das einzige von allen Bildern, das nicht abstrakt war. Es zeigte eine junge Frau in Noas Alter, mit langem, glattem und pechschwarzem Haar. Sie lag nackt auf einem Sofa – einer dunkelroten Chaiselongue. Es war das Mädchen von dem Foto, da gab es keinen Zweifel. Und das Sofa war die Chaiselongue auf dem Dachboden ihres Hauses. Sie stand an derselben Stelle, an der sie sich bis heute befand.
    Der Hintergrund war düster, fast schwarz, nur durch die schmale Dachluke drang ein milchig weißer Schein und tauchte den Körper des Mädchens in ein überirdisch wirkendes Licht. Auch die Haut des Mädchens war weiß, und zwar auf eine Weise, wie es Noa nie zuvor gesehen hatte: weder bleich noch blass, sondern im reinsten Wortsinn weiß wie Schnee, wie unberührter und von Mondlicht beschienener Schnee. Ja, es schien sogar, als ströme das Bild Kälte aus. Noas Hand zitterte, als sie die Kerze näher an das Bild hielt. Hinter ihr hockte David und sein Atem, der ihr warm in den Nacken fuhr, verriet seine Erregung – eine Erregung, die übrigens auch Noa empfand. Die junge Frau – dieses Mädchen … Eliza, sie war in all ihrer Kälte so anbetungswürdig schön, dass es einem den Atem nahm.
    Ihr Körper war vollkommen, zierlich, beinahe zerbrechlich, aber gleichzeitig waren ihre Formen rund und weiblich, die Hüften unter der Wespentaille geschwungen, die Brüste schwer und voll.
    Auch das Gesicht war vollkommen. Es war ein altmodisches, ovales Gesicht mit einer zierlichen, ebenmäßigen Nase, ausgeprägten Wangenknochen und vollen Lippen, die in den Mundwinkeln ganz leicht nach oben geschwungen waren. Die Augen waren groß und standen weit auseinander, was dem Gesicht etwas Antikes verlieh, als käme es aus einer ganz frühen Zeit oder aus der Zeit der Madonnen auf den Tizianbildern. Die Farbe der Augen war von einem tiefen Graublau, der gelassene Blick hatte etwas nach innen Gerichtetes.
    Das Intensivste war jedoch das Lächeln – das keines war. Es war die Ahnung eines Lächelns und David, der jetzt flüsternd das Schweigen brach, sagte etwas, das Noa ins Herz fuhr wie eine spitze, lange Nadel. »Man sehnt sich danach, dass es wirklich wird, ihr Lächeln. Man sehnt sich so sehr danach, dass man alles dafür tun würde, um es nur einmal zu sehen.«
    Noa erwiderte nichts.
    Ihr Blick blieb an den Händen des Mädchens hängen. Die Hände lagen auf dem Bauch, das Mädchen trug keinen Schmuck, weder am Hals noch an den Fingern, aber ihre Hände hielten etwas umschlossen. Es war ein Buch, rot wie dunkles Blut, nur eine Nuance heller als die Chaiselongue, auf der das Mädchen lag. Unwillkürlich dachte Noa an den Bücherschrank, der jetzt im Wohnzimmer ihres Hauses stand, aber an ein rotes Buch konnte sie sich nicht erinnern. Sie versuchte einen Titel zu entziffern, ebenfalls erfolglos, da die Hände des Mädchens die Vorderseite verdeckten.
    Noa wandte sich zu David, aber dessen Blick war plötzlich von etwas anderem angezogen, von etwas, das von außen kam. Einem Schatten – am Fenster. Jetzt sah Noa ihn auch.
    »Lösch das Licht! Schnell, Noa, lösch die Kerze!«
    David hatte seine Kerze bereits ausgepustet, Noa tat es ihm nach, aber es war zu spät. Wer immer dort vor dem Fenster stand, musste bemerkt haben, dass jemand in der Mühle war. Ein Kratzen am Fenster, verdammt!
    David hatte es offen gelassen. Dann ertönte die Stimme. Ein Flüstern, leise, kehlig.
    »Robert? Bist du da? Robert? Ich bin es, Marie.«
    Noa hielt den Atem an, das Herz schlug ihr bis zum Hals, immer schneller, immer lauter, bis sie meinte, man müsse es von außen hören können. In der Dunkelheit spürte sie auch Davids Anspannung. Sie hockten am Boden, bewegungslos, den Blick zum Fenster gerichtet.
    »Er hat mich

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