Whisper
David gesagt, wie tief ging es nach unten?
Esthers Hände legten sich um Noas Hals. Sie waren rau und dürr und krumm wie Vogelkrallen. Esther drückte nicht zu, aber sie hielt Noas Hals umklammert, ihre Hände passten genau herum wie ein Schraubstock. Noa spürte den Ring an Esthers Finger, glatt und kühl wie anfangs die Klinge. Sie presste die Augen zu, so fest, bis sie Sterne tanzen sah.
Ob ihr Hals noch immer blutete? Noa spürte es nicht, ihr war schwindelig, so schrecklich schwindelig. Sie wollte um sich schlagen, aber jede Bewegung, jeden Ansatz einer Bewegung würde sie mit dem Leben bezahlen. Und so stand sie einfach nur da, die ausgestreckten Arme schwer und taub, ein lähmendes Kribbeln überall, im ganzen Körper.
»Mutter.« Das war wieder Roberts Stimme und sie bewirkte zumindest, dass Esther innehielt. »Was hast du mit Elizas Leiche gemacht? Wo hast du sie versteckt?«
»Elizas Leiche?« Esther kicherte, es klang fast, als sei sie ein kleines Mädchen, das man gefragt hatte, wo es die Schokolade versteckt hatte. »Oh, sie liegt gar nicht weit von hier, ich habe sie selbst vergraben. Die ganze lange Nacht habe ich dafür gebraucht. Es hätte nicht viel gefehlt und Frau Thalis hätte ihre Knochen wieder ausgegraben. Aber dafür habt ihr ja das Tagebuch gefunden, Glückwunsch, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte es gut verwahrt, nicht wahr? Ich habe es aufbewahrt, um mich daran zu erinnern, dass ich das Rechte getan habe. Eliza hat ihre Strafe erhalten. Ich habe sie erwürgt mit meinen eigenen Händen. So, seht ihr? Genau so.«
Esthers Finger griffen jetzt ineinander, begannen zu drücken, der Ring bohrte sich in Noas Haut, genau an der Stelle, wo Esther sie mit dem Messer geschnitten hatte. Jetzt tropfte es wieder, das Blut.
Noa röchelte, ihre Arme fielen herab und die Knie drohten ihr wegzusacken. Nicht bewegen, das war das Einzige, was sie denken konnte. Nicht bewegen, nicht bewegen. Ihr Herz raste immer wilder, immer verzweifelter und Noa fing an zu wimmern, wimmerte den Namen ihrer Mutter, wimmerte nach David. Wenn sie ihn doch nur hören könnte, wenn er doch nur etwas sagen würde, irgendetwas, wenn sie doch nur wüsste, dass er bei ihr wäre.
Aber sie hörte ihn nicht, nur Gustaf und Robert sprachen, abwechselnd, aber ihre Worte machten keinen Sinn mehr, es waren leere Beschwörungen, verzweifelte Versuche, irgendetwas zu bewegen, doch Esther reagierte nicht mehr darauf und Noa nahm nur noch vage Geräusche wahr. Da war nichts Gegenständliches mehr außer Esthers eisernem Griff um ihre Kehle. Wenn ich jetzt springe, dachte Noa, wenn ich mich losreiße und springe, dann geht es vielleicht ganz schnell. Sie hatte einmal gehört, dass es nicht wehtat, wenn man sich das Genick brach. Ein grausamer Moment, aber nur ein Moment, dann wäre es vorbei.
Es war so still, dass Noa Esthers Atem hören konnte. Ein leiser Wind, ruhig und regelmäßig. Aber da war noch etwas.
Da war ein Geräusch, unter Noa, tief unten, in der Scheune. Ein Rascheln, Schritte, etwas, das abgesetzt wurde, ein Klacken.
Esther schien es auch zu hören, der Druck ihrer Finger wurde wie im Reflex so fest, dass er Noa die Luft abschnürte.
Sie wollte den Kopf senken, aber es gelang ihr nicht, sie konnte nur die Augen bewegen und nach oben schauen, durch die Dachluke. Der Himmel war wieder klar, und da war ein Stern, ein ziemlich großer, strahlender Stern, dessen Licht durch den Staub des Dachlukenfensters brach. Dann verschwamm er vor ihren Augen.
Ein seltsam süßer Geschmack legte sich auf Noas Zunge und in ihren Ohren fing es an, zu rauschen. War das der Anfang? Der Anfang vom Tod? Aber was … was war dieses Zischen, dieses laute, zischende Geräusch? Es kam nicht aus ihren Ohren, es kam von unten. Es klang, als würde etwas aufgeblasen – und dann ertönte eine Stimme.
»NOA SPRING! REISS DICH LOS UND SPRING, DU BIST SICHER!«
David, dachte Noa. Oh, mein Gott. Das war Davids Stimme! Er hatte sich weggeschlichen, deshalb war kein Wort von ihm gekommen. Esther stand so dicht hinter Noa, dass sie beim Drehen ihres Kopfes höchstens Gustaf und Robert hätte sehen können, nicht aber David hinter dem Fensterbalken, geschützt von der Dunkelheit. Aber was hatte er vor? Wie konnte sie springen? Wie konnte sie sicher sein? Hatte er Hilfe geholt, noch jemanden? Aber wen? Wer würde so schnell hierher kommen? Die Nachbarn?
Noas Herz raste jetzt anders, ihre Sinne schärften sich, aber in ihren Lungen würde bald
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