Whisper
angewärmt.
»Komm schon«, flüsterte Esther ihr ins Ohr, wobei ihr Atem an Noas Hals entlangstrich. »Komm schon, breite deine Arme aus, denn gleich wirst du fliegen. Genau wie Eliza.«
Noa würgte, würgte an ihrer Angst und an ihrem namenlosen Entsetzen. Aber sie tat, wozu Esther sie zwang. Langsam wie in Trance hob sie ihre Arme.
»Mutter«, kam es von hinten, vom Sofa. »Mutter, du bist von Sinnen. Mutter! Das Mädchen kann doch nichts dafür, Noa hat doch nichts damit zu tun, Mutter!«
Roberts Stimme, das war Roberts Stimme, während das Schluchzen von Gustaf kam.
Aber David, wo war David? Warum sagt er nichts, dachte Noa verzweifelt, warum tut er nichts? Warum hilft er mir nicht? Um Himmels willen, warum hilft mir niemand?
Weil niemand ihr helfen konnte. Jede falsche Bewegung hätte Esther sofort dazu gebracht, sie herunterzustoßen. Noas ausgestreckte Hände suchten nach einem Halt, aber da war nichts. Da war nur der Abgrund, kaum einen Schritt war sie davon entfernt und Esther stand so dicht hinter ihr, dass Noa ihren Geruch einatmen konnte. Atmen. Wie lange würde sie noch atmen?
»Mutter, komm zu dir! Bitte.« Jetzt war es Gustaf, der sprach, seine Stimme klang erstickt vom Schluchzen, aber Noa war klar, dass das alles war, was sie tun konnten. Auf Esther einreden, Zeit schinden, auf ein Wunder warten.
»Bitte, Mutter, du willst ihr doch nichts tun, komm, lass sie los. Komm, wir kriegen das hin. Noa wird nicht zur Polizei gehen, hörst du, sie wird alles für sich behalten. Wir werden das Buch verbrennen, es wird nichts übrig bleiben. Mutter, bitte, tu ihr nichts an.«
Esther lachte. So kalt. So furchtbar kalt. »Ich tu ihr nichts an, mein Junge. Ich werde ihr nur die Kehle durchschneiden. Und dann wird sie fliegen.«
Die Klinge war so scharf, dass Noa den Schnitt gar nicht spürte, sondern nur das Blut. Warme Tropfen perlten an ihrem Hals herab und Esther lachte wieder. »Keine Angst, das war nur der Anfang. Ein Stückchen Haut, mehr hab ich nicht erwischt. Nur ein leichter Ratscher, nur ein paar erste Tropfen Blut. Den Rest erledigen wir gleich.«
Die Schwärze vor Noas Augen, die Scheune, die vor ihr, unter ihr lag, wurde in ihren Umrissen sichtbar, Mauerwerk und Balken, Spinnweben, geisterhaft und unwirklich, aber da war auch der Duft. Der Duft von Elizas Parfüm. Er war so deutlich da, dass Noa ihn einsog, Atemzug für Atemzug. Tränen rannen ihre Wangen herunter, wärmer als das Blut vorhin auf ihrem Hals, bis sie auf Esthers Hände tropften und Noa sie nicht mehr spürte.
»Dieser Hals ist nicht so hübsch wie der von Eliza«, fuhr Esther in ihrer kalten, tonlosen Stimme fort. »Aber ansonsten sind die beiden sich doch recht ähnlich, meint ihr nicht? Ist es nicht seltsam, wie sich alles wiederholt? Die kleine Stadthure, Tochter ihrer Mutter, die mit meinen Söhnen ihr Spiel treibt, die in unser Dorf eindringt und zusammen mit ihrer Tochter alles zerstört. Ich hätte Frau Thalis die Pilzpfanne neulich gründlicher vergiften sollen, dann wäre das mit dem Auto nicht mal nötig gewesen, dann hätte ich deinen endlosen Vortrag über Bremsen gar nicht hören müssen, Gustaf. Und dir David, wäre nichts zugestoßen. Weißt du, wo unser Junge hinwollte, Noa, soll ich es dir verraten? Euch nach wollte der Dummkopf, nicht wahr, mein Junge, so war es doch? Nach Düsseldorf wolltest du, ohne zu wissen, wo sie sein würden, einfach nur hinterher, ohne Sinn und Verstand, genau wie meine beiden Jungen damals, genau wie sie.
Nein, das Spiel wird ein Ende haben, auch dieses Spiel. Die kleine Hure hat uns verraten und sie würde auch dich verraten, David. Du würdest uns verlassen für sie, würdest uns alleine lassen, nicht wahr? Würdest sogar deine Mutter und deinen kranken Bruder im Stich lassen, aber das wird nicht geschehen, dafür werde ich sorgen. Im Grunde brauche ich nicht mal das Messer. Wofür habe ich meine Hände, nicht wahr, David?«
David antwortete nicht. Er antwortete einfach nicht und Esther schien in ihrem Wahn auch keine Antwort zu erwarten. Sie gab Noa einen Schubs in den Rücken, Noa stolperte, wankte. Nur ihre Fersen hatten jetzt noch festen Boden unter sich, die Fußspitzen hatten die Schwelle zum Abgrund bereits überschritten. Vor Noa war das Nichts und alles verschwamm, das Mauerwerk, die Dachbalken.
Esther ließ das Messer fallen. Es gab ein hässliches, klirrendes Geräusch, als es eine kleine Ewigkeit später unten auf dem Boden landete. Vier Meter, fünf? Was hatte
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