Whisper
schien, als hätte Gustaf neben dem Apparat gestanden, so schnell ging er dran. Noa und David hörten, wie Robert seinem Bruder sagte, dass er Bescheid wusste. Dass er hätte, wonach Gustaf gesucht hatte. Dass er mit ihm sprechen wolle. Nein, nicht hier. Auf dem Dachboden, im Haus. Jetzt gleich. Doch. Jetzt gleich. Sonst würde er sofort zur Polizei gehen.
Robert machte sich auf den Weg, Noa und David blieben in der Mühle, hier sollten sie auf ihn warten, das versprachen sie, das mussten sie ihm versprechen.
Der Sturm brach los, er kam ganz plötzlich. Er rüttelte an den Fensterläden, riss an den Ästen der Bäume, jagte Blitz und Donner über den schwarzen Himmel und ließ den Regen los. Tropfen groß wie Kirschkerne trommelten ans Fenster, prasselten zu Boden und der Wind riss Robert mit sich, als er die Mühle verließ. Noa und David sahen ihm nach. Als die Nacht ihn verschluckt hatte, folgten sie ihm, liefen zum Haus und waren in Sekunden bis auf die Haut durchnässt.
Aber so plötzlich, wie der Sturm losgebrochen war, legte er sich auch wieder. Die Wolken verschwanden, als zöge eine eilige Hand sie vom dunklen Himmel fort.
Es war still, alles war still, als hätte das Dorf noch einmal tief Atem geholt, um sich jetzt zur Ruhe zu legen.
Als Noa und David den Dachboden betraten, auf nackten Füßen, um kein Geräusch zu machen, waren die schweren dunklen Seiten der Flügeltür zwischen dem vorderen und dem hinteren Raum noch immer geöffnet. Scheinbar hatte Robert ihnen vertraut, dass sie wirklich in der Mühle bleiben würden, dass ihn und seinen Bruder hier oben niemand belauschen würde. So leise sie konnten schlichen Noa und David an das linke Fenster. Seine glaslose Öffnung bot ihnen einen Einblick, gleichzeitig war der Dachboden dunkel genug, um sie beide zu verbergen. Noa warf einen Blick nach rechts, um zum anderen Fenster zu sehen, aber die aufgeklappte Flügeltür versperrte ihr die Sicht – und wie ein Blitz durchfuhr Noa wieder ihr Gedanke von damals: diese seltsame visionsartige Vorstellung, die sie gehabt hatte. Zwei Menschen hinter den Fenstern, der eine rechts, der andere links, beide verdeckt von den Seiten der Flügeltür und beide den Blick auf die rote Chaiselongue gerichtet wie auf ein Bühnenstück. Noa presste die Hand vor den Mund. Ja, Gustaf war es gewesen, der damals wirklich hier gestanden hatte, hier oben, hinter einem dieser Fenster, seinen Blick auf das Mädchen gerichtet, das nur ein paar Tage gebraucht hatte, um sein Herz zu erobern, und wenige Minuten, um es zu brechen.
Und jetzt, dreißig Jahre später, standen sie hier, Noa und David, und sahen auf die beiden Brüder.
Robert saß auf dem Sofa. Aus seinen dunklen Haaren tropfte der Regen, das nasse Hemd klebte ihm am Oberkörper und Elizas Buch lag wieder auf seinen Knien. Gustaf stand vor ihm, ebenfalls tropfnass, mit hängenden Schultern. Er hatte Noa und David den Rücken zugewandt, der Regen rann aus seinen Ärmeln.
»Woher hast du das Buch?« Gustafs Stimme bebte.
»Noa und David haben es mir gebracht. Ich weiß nicht, woher sie es haben. Aber sie sagten, auch du hättest danach gesucht. Sie haben Schritte gehört, auf dem Dachboden. Deine Schritte.«
»Und was geht dich das an?« Gustafs Körper straffte sich, er machte einen Schritt auf Robert zu und für einen Moment hatte Noa furchtbare Angst, er würde ihm an die Kehle gehen.
»Gustaf, ich weiß nicht, ob dir klar ist, was das hier bedeutet.« Robert hielt das Buch hoch. »Noa und David wissen Bescheid –und jeder, der dieses Buch in die Hände bekommt, wird ebenfalls Bescheid wissen. Wer in diesem Buch liest, wird nicht den leisesten Zweifel mehr daran haben, wer Elizas Mörder ist. Ich schlage vor, du rückst jetzt langsam mit der Sprache raus.«
Gustafs Schultern sackten wieder herab. »Ja«, sagte er und seine Stimme klang unendlich erschöpft. »Ja, ich habe nach dem Buch gesucht. Ein paar Mal war ich hier oben, nachdem Noas Mutter von den alten Möbeln gesprochen hatte. Ich dachte, sie wären weg. Ich dachte, alles wäre weg. Ich dachte, es wäre vorbei. Aber nichts ist vorbei. Wie sagt man doch so schön: ›Man kann niemanden totschweigen‹?« Gustaf lachte, ein hässliches, sperriges Lachen, und Noa sah, wie sich seine Fäuste ballten. »Du Schwein«, zischte er. »Du Schwein, was hast du mir angetan?«
»Ich wusste es nicht, Gustaf. Ich hatte keine Ahnung, du kannst es selbst nachlesen, Eliza hat alles aufgeschrieben. Wir waren Figuren für
Weitere Kostenlose Bücher