White Horse
Sie?«, fragt Morris eines Tages. Der Bus steht halb
auf der durchbrochenen gelben Linie. Sein Fahrer blickt uns erwartungsvoll an.
Er zuckt die Achseln und deutet mit dem Daumen auf den Fahrkartenbehälter.
»Wohin die Leute wollen.«
»Und was sind derzeit die beliebtesten Ziele?«
Wieder zuckt er die Achseln. »Flughafen.«
»Was gibt es denn da?«
Er schaut sie an, als sei soeben ihr Hirn ausgelaufen und auf das
kakifarbene T-Shirt getropft. »Vögel. GroÃe silberne Vögel.«
»Die nehmen immer noch Passagiere auf?«
»Was weià ich? Ich fahre nur den Bus. Um mir die Zeit zu vertreiben.
Besser, als rumzusitzen und auf den Tod zu warten.«
Die Bustüren seufzen und zischen, als er den Fuà von der Bremse
nimmt und der gelben Linie folgt.
»Oz«, sage ich.
Morris guckt mich über den Rand ihrer Pilotenbrille an.
» Der Zauberer von Oz. Hast du den Film
gesehen?«
»Klar. Beim Anblick dieser fliegenden Affen bin ich vor Schreck
ausgeflippt. Was ist damit?«
»Hast du in letzter Zeit mal Flugzeuge gehört?«
Kopfschütteln. Erwartungsvoller Blick.
»Genau. Die sind alle unterwegs zu einem Zauberer, den es gar nicht
gibt, auf der Suche nach Verstand, einem Herz oder was immer sonst sie sich
wünschen.«
»Willst du auf irgendwas Bestimmtes hinaus?«
Ich mache kehrt und gehe auf die alte Schule zu. »Nein.«
»Du bist reif für die Klapse. Du solltest vielleicht mit â¦Â« Sie
bricht ihren Satz unvermittelt ab.
»Mit Nick reden? Du kannst seinen Namen ruhig aussprechen. Ich kann
es auch. Nick, Nick, Nick.« Ich hebe beide Hände. »Siehst du? Alles okay mit
mir.«
Aber nichts ist okay mit mir. Mein Herz ist schon früher böse
gequält und misshandelt worden. Anfangs von irgendwelchen Jungs. Dann durch
Sams Tod. Und nun von Nick. Aber diesmal ist die Sache anders. GröÃer. Wie eine
groÃe Kummerblase, die mich mit ihren dünnen Wänden umschlieÃt und festhält.
Egal, wie schnell ich renne, die Blase bewegt sich mit. Ich bin in einem
Hamsterrad gefangen.
Ich habe mir angewöhnt, allein durch die StraÃen zu ziehen. Ich
besitze eine Pistole. Morris hat mir gezeigt, wie man mit dem Ding umgeht.
AuÃerdem habe ich ein Messer und weià auch, wie man mit diesem Ding umgeht.
Aber würde ich die Waffen im Ernstfall auch einsetzen? Ich weià es nicht. Im
Moment sind sie eher so etwas wie eine Versicherungspolice aus kaltem, hartem
Metall.
Andere Dinge stecken in den Taschen meines schweren Mantels:
Proviant, Geld und meine Schlüssel. Eine alte Gewohnheit, die ich nicht ablegen
kann.
Und Nicks ungeöffneter Brief. Das ist alles, was mir von ihm
geblieben ist.
ZEIT: JETZT
Liebst du mich, Mami?
Ja.
Warum?
Weil du mir gehörst.
Warum?
Weil ich Glück mit dir habe.
Warum siehst du dann nicht glücklich aus?
Ach, Baby, ich bin glücklich über dich, aber ich
bin auch traurig.
Warum?
Weil ich mich nach deinem Vater sehne.
Liebst du ihn auch?
Und wie, Baby, und wie!
Warum ist er dann nicht hier?
Wir gehen zu ihm, Baby. Bald.
ZEIT: DAMALS
In diesem Keller lagert ein Schatz. Goldbarren in Plastik
verpackt. Teig um eine Cremefüllung gepresst. Ihr Wert ist unermesslich. Ich
öffne einen Karton. Schiebe einen der kostbaren Riegel in meine Tasche.
»Du stehst tatsächlich auf Twinkies?«, sagt Morris hinter mir. »Ich
habe seit Jahren keine mehr gegessen.«
Ich fahre erschrocken zusammen, und der Riegel fällt mit einem
leisen Plumps zu Boden.
»Für unterwegs«, erkläre ich. »Ich will in die Stadt.«
»Schon wieder? Was machst du da blo�«
»Spazieren gehen. Schaufenster gucken. Mit den Mädels Tee trinken.«
Sie betritt unsere Speisekammer, die mindestens so groà wie mein
Apartment und randvoll mit Lebensmitteln gefüllt ist. Die gesamte
Produktpalette von Little Debbies ist vertreten. Nobel geht die Welt zugrunde.
Morris fischt einen Goldriegel aus dem Karton, streift die Hülle ab und schiebt
ihn ganz in den Mund. Dann kommt der nächste dran. Sie verschlingt ihn und
grinst mich mit Kuchenbröseln in den Mundwinkeln an.
»Verdammt, ich hatte ganz vergessen, wie himmlisch die Dinger
schmecken. Hast du Nicks Brief schon gelesen?«
»Nei-ein.«
»Reife Leistung.«
»Sagt die Frau, die eben einen ganzen Twinkie verdrückt hat.«
»Zwei.«
»Ladies and Gentlemen,
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