White Horse
hier sehen Sie Tara Morris, Siegerin im
Twinkie-Wettessen und damit Weltmeisterin in dem Teil der Welt, der noch nicht
vor die Hunde gegangen ist.«
Wir kichern wie alberne Teenager, sorglos und lebendig, bis die
Realität sich an unseren Schienbeinen reibt wie eine hungrige Katze.
Morris sieht mich streng an. »Mach den Brief auf! Bitte.«
»Ich kann nicht.«
Sie schüttelt den Kopf. In ihren Augen lese ich das Verständnis, das
in ihren Worten nicht zum Ausdruck kommt. »Du hast Angst. Aber was bringt das
denn? Dass du mit einer Tasche voll Twinkies durch die StraÃen rennst und dich
vor Sorge um ihn verrückt machst?«
»Es ist nur ein Twinkie.«
Es ist nur ein Twinkie. Anfangs. Später sind es zwei. Und vier Wochen, nachdem Nick mich verlassen hat, mache
ich meine Runden mit drei Twinkies in der Tasche. Ich tue so, als habe es ihn
nie gegeben. Ich glaube, dass er tot ist. Zugleich bete ich, dass er lebt und
seine Eltern unversehrt angetroffen hat.
Ich bin in der Bibliothek, als es passiert, in dem gleichen Saal, in
dem die Träume meiner Schwester zerschellten, bevor Pope sie auf offener StraÃe
ermorden lieÃ. Es gibt keine neuen Listen, niemand pflegt sie mehr. Die alten
flattern erregt, als ich die Tür aufschiebe. Seht her! Ein Mensch! Dann verstummen
sie. Die Bibliothekarin ist verschwunden und hat ihre Ãberheblichkeit den vornehmen
Geschichtsbüchern hinterlassen. Niemand passt auf, ob ich in der Nähe der
kostbaren Bände esse oder nicht.
Ich reiÃe die Plastikhülle auf.
Krümel fallen auf die Seiten des Atlanten, den ich aufgeschlagen
habe. Ich sammle sie mit angefeuchtetem Finger auf und lecke die kleinen gelben
Tupfen ab. Die trockene Linke zieht eine unsichtbare Linie über das dicke, edle
Papier, über die blassblauen Wasserflächen â erst den Atlantik, dann das Mittelmeer â zwischen New York und Athen. Von dort aus geht es nach Norden, Zoll um
farbenfrohen Zoll, über die zersplitterten Staaten, die Griechenland bilden.
Der Name, der Name, wie war der Name? Nick hat mir den Namen des
Dorfes gesagt, in dem seine Eltern aufwuchsen, aber nun, da ich den Streifen
mit all den Orten überfliege, bin ich einfach nur überwältigt von ihrem fremden
Klang. Die Namen verschwimmen auf dem Papier, bis sie bedeutungslos sind.
Mein Magen verkrampft sich. Der Atlas dreht sich im Kreis. Das bunte
Mosaik der Bodenfliesen rast auf mich zu.
Gott sei Dank verfehle ich die Bücher. Die Bibliothekarin würde mir
den Frevel bis zum Ende der Welt nicht verzeihen.
ZEIT: JETZT
Ich bin tot und befinde mich in der Hölle. Flammen lecken
über mein Gesicht, tanzen mit den Schatten, zwingen sie in die Dunkelheit und
nehmen neue Partner. Licht spielt über die Gesichter blinder Marmormänner,
verzerrt sie zu satanischen Fratzen. Soldaten galoppieren über Gipswände und
schlagen mit ihren Peitschen auf die Pferde ein. Schneller!
Schneller!
»Nicht in der Hölle.« Das sind nicht meine Worte. Sie dringen von
auÃen auf mich ein. Ich bin wach genug, um das zu erkennen.
»Wo dann?«
»Delphi.« Die Stimme endet mit einem leichten Schwanken, als seien
die Stimmbänder im Lauf der Zeit ausgeleiert.
Jede Bewegung schmerzt, aber irgendwie schaffe ich es, mich
aufzusetzen. Ein AuÃenstehender könnte mich für einen Sack Kartoffeln halten,
und so fühle ich mich auch. Mein Gewicht verlagert sich ständig, meine zusammengepressten
Organe rollen umher, als sei mir das Stützskelett abhandengekommen. Meine
Perspektive ändert sich. Das Feuer zieht sich in seine Grube zurück. Ein
sonderbares Gemisch aus Schatten und Licht überflutet den Raum. Die Frau
verharrt im Halblicht.
Zwei Steinmenschen türmen sich neben mir auf.
»Wer sind die beiden?«
»Kleobis und Biton. Ein Brüderpaar, das für seine Heldentaten von
Hera die Gunst erhielt, sanft zu entschlafen.« Die Worte kommen zögernd.
»Kein Geschenk, das man zurückgeben kann?«
»Was heiÃt das?«
Wir sind in Griechenland, die Frau ist Griechin. Sie spricht zwar
Englisch, aber sehr langsam, weil sie erst im Geist übersetzt, was sie sagen
will. Ich wollte, ich könnte ihr den gleichen Gefallen erweisen.
Mit einfachen Worten erkläre ich, was ich meine, und sie nickt.
»Gott schenkt freigebig ⦠oder gar nicht. Ihre Mutter erflehte einen
Segen und wurde bestraft, weil sie so stolz auf ihre
Weitere Kostenlose Bücher