White Horse
erfüllen!
»Hast du eine Familie?«
»Meine Familie ist hier.« Sie deutet mit einer weit ausholenden
Geste auf den Pfad, der zwischen den Felsen verschwindet.
»Kinder?«
»Ich bin das Kind.«
Der Kummer zerschneidet mir das Herz, aber ich habe keine Tränen
mehr. »Du hast Glück.«
»Vielleicht.«
Die kryptische Antwort wird von einem gleichfalls schwer zu
deutenden Lächeln begleitet. Wer ist diese Frau? Ich frage sie, und wir stellen
uns vor, wie es höfliche Leute zu tun pflegen, ehe wir wieder das
Kopfsteinpflaster entlangstarren. Jede von uns sieht etwas völlig anderes, da
wir nichts auÃer einem beliebigen Namen teilen.
Monster.
Sind wir das jetzt nicht alle?
ZEIT: DAMALS
Morris springt von ihrem Stuhl auf. »Herrgott, was ist
passiert?«
Meine kalte, feuchte Hand rutscht vom glatt lackierten Türstock ab.
»Komm mir nicht zu nahe. Ich bin krank.«
Angst flackert in ihrem Blick, erlischt wieder und macht Besorgnis
Platz, lodert erneut auf, diesmal gepaart mit Zorn. Sie reiÃt ihr Klemmbrett
vom Schreibtisch und schleudert es an die Wand. Es zerbricht und fällt mit
Getöse zu Boden.
»Verdammte ScheiÃe!«
»Es ist okay«, beruhige ich sie, als sei sie es, die von White Horse
erwischt wurde. Aber so ist es immer, oder? Die unheilbar Kranken versichern
ihren Lieben, dass bestimmt alles gut wird, wenn nur alle lächeln und positiv
denken. Nichts hält den Tod so wirksam fern wie ein Regenbogen über dem Styx.
»Es ist nicht okay. Es ist alles andere als okay. Es ist nicht mal
auf dem gleichen Planeten wie das Wort okay.«
»Ich muss weg von hier. Ich kann nicht zulassen, dass sich die
Krankheit durch mich verbreitet.«
»Unsinn«, entgegnet sie. »Du musst bleiben. Und überhaupt â wir sind
immun, wenn wir das Zeug bis jetzt nicht aufgeschnappt haben.«
»Das wissen wir nicht. Wir vermuten es nur. Wenn wir deiner Logik
folgen, dürfte ich mich nicht übergeben.«
»Auch wieder wahr. ScheiÃe. Ich kann nicht klar denken. Himmel, Zoe,
du darfst nicht krank sein. Ich â¦Â«
»â¦Â erlaube es nicht?«
»Genau.« Sie hebt die Klemmbrett-Fragmente auf und will sie wieder
zusammensetzen, aber sie setzen sich erfolgreich zur Wehr. »Ich kann nicht noch
mehr Leute verlieren, Zoe. Du und die anderen, ihr seid jetzt meine Familie.
Ich dachte, wir seien alle sicher vor dieser verdammten Seuche. Ich hatte mich
fest darauf verlassen.«
»Tut mir leid.«
Sie stampft ans Fenster und schiebt mit einem wütenden Ruck die Glasscheibe
hoch.
»Ich hasse dich, George Pope!«, schreit sie in die leeren StraÃen
hinaus. »Und ich bin verdammt froh, dass du tot bist! Ich hoffe, du schmorst in
der tiefsten Hölle, du Arschloch!« Die Fassaden der anderen Häuser begegnen
ihrem Ausbruch in stoischer Ruhe, ohne sich von ihren harten Worten zu einem vorschnellen
Urteil verleiten zu lassen.
»Tara, irgendwie müssen wir alle sterben, oder?«
»Falsch. Wir sollten unsterblich sein.«
»Klingt wohlüberlegt.«
»Das sagt eine, die uns im Stich lässt, nur weil sie glaubt, krank
zu sein.«
»Schau mich doch an! Ich bin krank. WeiÃ
Gott, was als Nächstes passiert. Wenn dieses Zeug erst mal meine Gene nach
Belieben an- und ausknipst, könnte ich mich in etwas verwandeln, das nichts
mehr mit mir zu tun hat. Niemand vermag zu sagen, was dabei herauskommt.
Vielleicht überlebe ich als eine Art Evolutionsfreak, vielleicht sterbe ich
auch. Und deshalb werde ich jetzt packen.«
»Geh nicht«, sagt sie. »Bitte.«
»Ich muss.«
Morris stöÃt einen schweren Seufzer aus. Sie beugt sich weit vor,
stützt beide Ellbogen auf die Schreibtischkante und schlägt mit der Stirn
mehrmals gegen die harte Platte. Dann hebt sie den Kopf und schaut mich an.
»Du bleibst bei deinem Entschluss, nicht wahr?«
»Allerdings.«
»Okay. Dann tu mir einen Gefallen. Bleib in der Nähe. Richte dich in
einem der Häuser auf der anderen StraÃenseite ein, wo ich ein Auge auf dich
haben kann.«
Ich nicke. Dann wende ich mich von der Freundin ab. Was ich ihr
verschweige, ist, dass ich den Tod nicht völlig ablehne. Zum ersten Mal im
Leben spiele ich mit dem Gedanken an mein Ende. Und er flöÃt mir keine Angst
mehr ein.
Weil ich hoffe, dass dann mein Herz endlich zu bluten aufhört.
ZWANZIG
ZEIT: DAMALS
Ene,
Weitere Kostenlose Bücher