White Horse
Hohn.
Wäre da nicht die Unruhe des Tiers, könnte ich meinen Verstand davon
überzeugen, dass dieses Wort meiner Furcht entsprungen ist.
Jemand ist da drauÃen. Das Messer wiegt plötzlich schwer. Es
erinnert mich, dass es bereit ist, mich im Notfall zu schützen.
Die Wand presst gegen meinen Rücken, als ich vorsichtig einen
Schritt rückwärtsgehe. Die Schwerkraft zwingt mich zu Boden. Meine Knochen
knirschen, noch bevor ich sie belaste. Von hier aus kann ich die Tür und beide
Fenster im Auge behalten. Einen anderen Weg herein oder hinaus gibt es nicht.
Ich lege einen Schokoriegel auf meinen Bauch und warte, dass die Dunkelheit hereinbricht.
Die Minuten vergehen, ballen sich zu Stunden. Ich weià nicht, wie
viele es sind, aber die Sonne wandert langsam über den Himmel.
Die Hitze nimmt zu, aber hier unten auf dem Betonboden spüre ich,
wie die Kühle der Erde in meine Haut sickert. Esmeralda gibt mitten im Laden
ihren verdauten Hafer wieder von sich. Ich bemühe mich, nicht weiter auf den
Gestank zu achten.
Ich warte. Beobachte. Horche.
SchlieÃlich kommt die Nacht und verdrängt die Sonne hinter den
Horizont. Seit Stunden habe ich nichts auÃer den gewohnten Geräuschen der Natur
gehört. Keine gewisperten Hohnworte, keine fremden Atemzüge. Aber ich traue dem
Frieden nicht und breche erst im Schutz der Finsternis auf. Das Dunkel und die
Hoffnung sind meine Verbündeten.
Die Wahrheit ist, dass es einfacher wäre, Esmeralda zurückzulassen
und mich allein durchzuschlagen, aber das will ich nicht. In ihrer Gesellschaft
fühle ich mich weniger einsam. Nach und nach sind alle fortgegangen, die mir
etwas bedeuteten. Ich müsste geheilt von Beziehungen sein, aber ich kann nicht
umhin, mich dieser Eselin verbunden zu fühlen, und ich bete, dass ich sie vor
Schaden bewahren kann.
Wir trotten aus dem Gebäude und ziehen die öde StraÃe entlang. Ich
halte mich an den Seitenstreifen, weil ich im Unterholz ohne Licht verloren
wäre. Ein Sturz würde mir gerade noch fehlen. Wer immer da drauÃen
umherstreift, beobachtet mich ohnehin. Im Moment kann ich einem Verfolger die
Arbeit nur dadurch erschweren, dass ich im Schatten bleibe und den
langstieligen Brotschieber wie einen Zauberstab vor mir hertrage.
Anfangs weht eine schwache Brise, die das Laub leise rascheln lässt.
Ich begrüÃe das Geräusch, weil es unsere Schritte überlagert. Aber schon nach
kurzer Zeit flaut der Wind ab und gibt uns keine Deckung mehr.
Ich bleibe stehen. Einen halben Herzschlag später vernehme ich das
schwache Echo fremder Tritte. Jemand folgt oder verfolgt uns. Ist das überhaupt
ein Unterschied? Wie dem auch sei, die Sache gefällt weder mir noch meinem
Zentralnervensystem; ich spüre, wie es mich mit Adrenalin überflutet.
Ich drehe mich herum und starre ins Dunkel.
Es ist nur ein Flimmern am Rande meines Sichtfelds, wie das
aufgeregte Flattern eines Insekts, das sich in einem Spinnennetz verfangen hat.
Mehr als diesen Hauch einer Bewegung kann ich nicht erkennen. Da!, schrillen alle meine Sinne. Ich verrenke mir fast den
Hals, aber dann sehe ich es: blonde, ordentlich frisierte Haare, die einen
ebenmäÃig geformten Kopf umrahmen. Haare, die zu einem Geist gehören.
Das Adrenalin hat die Kontrolle übernehmen. Scheucht mich zu den
verkrümmten Olivenbäumen. Halb laufe ich, halb gehe ich, immer tiefer in die
Wildnis hinein. Esmeralda bleibt an meiner Seite, ohne sich zu sträuben,
trittsicherer als ich. Schuldgefühle überwältigen mich. Sie vertraut darauf,
dass ich sie schütze. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass ich ihr Vertrauen nicht
enttäuschen werde.
In diesem Moment greift das Schicksal ein und lässt mich in ein Loch
stolpern. Mein Knöchel knickt um. Ein heftiger Schmerz jagt durch mein Schienbein,
und ich falle. Das Letzte, was ich sehe, ist eine Frau, die aus der Schwärze
taucht, mit schrecklich vernarbtem Gesicht und wild flatterndem Haar.
Die Medusa von Delphi.
NEUNZEHN
ZEIT: DAMALS
Ãber der Stadt liegt endloses Schweigen. Die Stille ist
wie ein Schwamm, der uns aufsaugt. Die Gehsteige dämpfen unsere Schritte.
Selbst Hustengeräusche klingen schwach und unterdrückt. Lärm machen nur die
Fahrzeuge, die auf den StraÃen unterwegs sind: gelegentlich ein Personenwagen,
hier und da auch ein Bus mit einer Handvoll Fahrgäste, die stumpf geradeaus
starren.
»Wohin fahren
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