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White Horse

White Horse

Titel: White Horse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Adams
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dass sie nicht
aus Holz geschnitzt ist, sondern aus Fleisch und Knochen und einer
pergamentdünnen Haut besteht. Dann dreht sie sich weg, und die beiden setzen
ihre Totenwache fort.

    Der Sturm peitscht die See zu rasender Wut auf. Es gießt in
Strömen, ein heißer Regen, der vom Meer her kommt und uns so gründlich
durchweicht, dass ich vergesse, was trockene Kleidung ist.
    Eine Zufluchtsstätte erscheint in Form einer kleinen, bescheidenen
Kirche. Wir verriegeln die Türen von innen und horchen auf das Knirschen der
rostigen alten Angeln. Jesus weint für uns hoch oben auf seinem Kreuz. Ich
wollte, er hätte mehr zu bieten als ein paar aufgemalte Tränen. Die Fenster
leuchten in bunten Farben. Ich gehe von einem zum nächsten und spähe nach
draußen. Nichts ist zu sehen, nur dicke Tropfen, die das Glas entlangrinnen.
Nachdem ich ein paarmal die Runde gemacht und die Sicherheit überprüft habe,
setze ich mich in eine der wenigen Kirchenbänke. Bei den griechisch-orthodoxen
Gottesdiensten scheinen die meisten Leute zu stehen.
    Inzwischen sind Schmerzen so normal für mich, dass ich das
krampfartige Ziehen erst bemerke, als Irini vor mir niederkniet und mich mit
ihren großen Augen besorgt anschaut.
    Â»Ist es das Baby?«
    Â»Nein. Ich glaube nicht. Eher Rückenbeschwerden.«
    Â»Es ist das Baby.«
    Â»Das wäre zu bald.«
    Â»Weiß man das? Alles nicht mehr wie früher.«
    Â»Es ist nicht das Baby.«
    Es kann nicht das Baby sein. Noch nicht.
    Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich jedes Gefühl für die Zeit
verloren. Oder die Zeit hat mich verloren.

    Der Sturm tobt, aber wir sind sicher in unserem Gehäuse aus Holz
und Stein. Unsere nassen Sachen hängen wie schlappe Fahnen über dem Altar. Wie
in allen orthodoxen Kirchen gibt es auch hier jede Menge langer dünner Kerzen
für die Gläubigen. Wir zünden sie nicht an. Licht könnte nur unerwünschte
Besucher herbeilocken. Stattdessen vergraben wir die Enden tief im
Seesandhalter und beten in stummer Verzweiflung.
    Die erste Wache übernehme ich. Ich wähle den Altar als Sitzplatz,
damit ich Jesus in die Augen sehen kann.
    Ich muss ein ernstes Wort mit dir reden.
    Tu dir keinen Zwang an.
    Dein Vater hat die Menschheit sterben lassen.
    Nein. Den Untergang habt ihr dem freien Willen
eines einzigen Mannes zu verdanken.
    Und was ist mit uns? Mit unserem freien Willen,
am Leben zu bleiben?
    Er hat für euch alle entschieden. Aus
egoistischen Gründen, ja, aber es war seine Entscheidung. Mein Vater hätte ihn
ebenso wenig davon abhalten können, wie er Judas davon abhalten konnte, mich zu
verraten.
    Du sagst also, dass es so sein musste?
    Ich sage, dass es so ist. Jetzt zählt, wie ihr
damit umgeht.
    Hast du die Absicht, auf die Erde zurückzukehren?
    Sind denn noch Menschen da, die das bemerken
würden?
    Eigentlich glaube ich nicht mehr an dich .
    Seine aufgemalten Tränen fließen nicht. Ich
glaube auch nicht mehr an mich.

    Jetzt, da mein narbenübersäter Schutzengel Wache hält, kann ich
mich mit Nick treffen. Ich fühle mich wie ein Teenager, der heimlich aus dem
Fenster steigt. Die Tagstunden sind mein Gefängnis, während sich mein wahres
Leben in Traumfragmenten abspielt.
    Meine Finger ziehen träge Kreise auf seiner glatten Brust. Er fühlt
sich echt und warm an, keineswegs von meiner unstillbaren Sehnsucht ins Leben
gerufen.
    Â»Ich habe geträumt«, sagt er, »dass du auf der Suche nach mir die
ganze Welt durchwandert hast.«
    Â»Stimmt nicht.«
    Seine dunklen Augen sehen mich fragend an.
    Â»Ich war mit einem Flugzeug unterwegs, mit einem Fahrrad und einmal
auch mit einer Fähre.«
    Ich liebe dich, schreiben meine Finger auf
seine Haut.
    Â»Ich wollte, dass du bleibst.«
    Â»Das konnte ich nicht. Du bist alles, was ich noch habe. Du und
unser Baby. Morris ist tot. Wusstest du das?«
    Er streichelt mein Haar. »Sie hat es mir selbst gesagt.«
    Â»Du hast mit ihr gesprochen?«
    Â»Sie ist hier.«
    Â»Wo? Das kann nicht sein. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass
sie starb.«
    Â»Ganz in der Nähe.«
    Ich wache mit einer elenden Trauer im Herzen auf, als habe man mir
etwas entrissen, das ich noch nicht lange genug kannte, um es zu lieben.

    Der Traum malt meine Stimmung mit dicken, dunklen Farben, die
meinen Tag verdüstern. Um zu verhindern, dass ich Irini anfauche, nur weil sie
da ist und ich

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