White Horse
einen gröÃeren Vorrat an Quellwasser und Toiletten, die dank
irgendeiner Wundertechnik immer noch intakte Spülungen haben.
»Erzähl mir von ihm«, sagt Irini, als wir die weich gepolsterten
Bänke in Besitz genommen haben.
»Von wem?«
»Deinem Mann.«
»Nick ist nicht mein Mann.«
»Macht nichts.«
Ich stehe auf, vergewissere mich, dass die Tür gut verschlossen ist
und danke den grau getönten Scheiben, dass die Sonne kaum eindringen kann.
Esmeralda steht ganz vorne, wo sie etwas Bewegungsfreiheit hat. Ich streiche
ihr über den Rücken und lasse mich dann mit müden Schenkeln wieder auf die Bank
fallen.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Er hat mich verlassen. Ich bin
ihm gefolgt.«
»Warum?«
»Weil ich ihn liebe. Hast du je einen Mann geliebt?«
»Einmal. Vielleicht.«
»Wärst du ihm überallhin gefolgt?«
»Vielleicht. Er wurde getötet.«
»Das tut mir leid.«
»Ist lange her.«
»Es tut mir dennoch leid.«
Es entsteht eine Pause. Dann fragt sie: »Was wirst du tun, wenn er
tot ist?«
Ich denke darüber nach und spüre eine Leere, die jeden Atemzug wie
einen Messerstich erscheinen lässt.
»Ewig um ihn trauern.«
»Was ist hier oben?« Ich beuge mich über die Karte und deute auf
das Gebiet jenseits von Lamia.
»Mehr davon.« Sie umfasst die Bäume und Hügel mit einer weiten
Geste. »Dann das Wasser.«
Wir gehen weiter. Ich frage mich, wo der Schweizer jetzt ist.
»Wie willst du dein Kind nennen?«
Ich werfe ihr einen erstaunten Blick zu. »Das weià ich noch nicht.«
»Du hast Zeit. In Griechenland bekommen Kinder erst Namen bei der â¦Â«
Sie macht ein Kreuzzeichen auf ihre Stirn.
»Taufe?«
»Ja. Bis dahin heiÃen sie einfach Baby .«
Ich probiere den Klang aus. »Baby.«
»Weià er es, der Mann?«
»Von dem Kind?«
Sie nickt.
»Nein.«
»Was wird er tun?«
»Keine Ahnung«, sage ich ehrlich. Irgendwie habe ich noch nie
darüber nachgedacht, ob er es überhaupt will.
»Mach dir keine Sorgen.«
Zu spät.
Orte ziehen vorbei. Sie sind jetzt Geistersiedlungen, tot, ohne
Sinn und Zweck.
Sie haben den Menschen gedient, doch nun gibt es keine Menschen
mehr, die sie am Leben erhalten. Die Hütten stehen leer. Selbst die Bäume
wirken erschöpft und am Dasein verdrossen. Die Hitze dörrt das Land aus. Hin
und wieder halten wir an und suchen nach Lebensmitteln, aber die meisten
Konserven sind nur begrenzt haltbar und haben ihr Verfallsdatum längst
überschritten. Manchmal finden wir Kekse und SüÃwaren. Was wir nicht sofort
heiÃhungrig verschlingen, kommt zu unseren Vorräten in den Rucksack.
Der Wind schmeckt jetzt salzig. Und ein wenig metallisch, wie neue
Münzen oder Kupferrohre. Ich weiÃ, was das bedeutet. Ich kenne das von früher.
Auch Irini weià es, aber sie sagt nichts.
»Ich rieche Blut.«
»Ja.« Sie nickt.
»Das mit deiner Schwester tut mir leid. Ihr Rat war allerdings
falsch. Du hättest bleiben sollen. In meiner Gesellschaft bist du nicht
sicher.«
»Ich brauche keine Sicherheit. Ich brauche einen Grund.«
»Einen Grund wofür?«
»Zum Weiterleben.«
Drei Romafrauen kommen uns auf der StraÃe entgegen. Sie
vermeiden es, uns in die Augen zu blicken. Angespannt und argwöhnisch, sie und
wir. Bunt zusammengewürfelte Gewänder hängen wie Fetzen an ihren ausgemergelten
Körpern.
Ich rufe ihnen nach, als sie uns passiert haben. Eine kleine,
untersetzte Frau bleibt stehen, dreht sich um und beobachtet mich mit
zusammengekniffenen Augen. Ich strecke ihr eine Handvoll SüÃigkeiten entgegen.
Wortlos wendet sie sich ab.
Wir setzen unsere Wege in entgegengesetzter Richtung fort.
Irini wirft mir einen fragenden Blick zu.
»Freundlichkeit kostet nichts«, sage ich.
Am Meer steht ein Stuhl, auf dem ein alter Mann sitzt. Die
steigende Flut leckt ihm um die Knöchel. Es scheint ihm nichts auszumachen. Auf
seinem Schoà sitzt eine Puppe von der Art, wie sie einst der Bauchredner Edgar
Bergen benutzte, mit hölzernen Zügen und einem übertrieben groÃen Mund. Er und
seine Begleiterin drehen die Köpfe nach hinten, als unsere Schritte über den
Kies knirschen. Er winkt uns zu, ehe er sich wieder dem Meer zuwendet. Die
Puppe starrt uns weiter an. Erst als wir näher kommen, sehe ich,
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