White Horse
verläuft.
»Weshalb nehmen wir diese StraÃe?«
Er gibt keine Antwort.
Ich kann mir den Grund denken. Er befürchtet, dass wir unterwegs auf
Nick stoÃen könnten. Oder gar auf Nick und mehrere Begleiter. Er rechnet mit
einem Angriff aus dem Hinterhalt. Ich habe ihm so wenig von meinen Plänen
erzählt, nichts auÃer den Grundzügen, geboren aus der Notwendigkeit, mich aus
der Welt zurückziehen, all meine Kräfte für das Ãberleben zu bündeln, mich voll
und ganz auf meinen Plan zu konzentrieren. Meine bewusste Isolation hatte erwartungsgemäÃ
einen angenehmen Nebeneffekt: Er ist verunsichert. Deshalb geht er mit
unbewiesenen Vermutungen ein kalkuliertes Risiko ein.
»Ich dachte immer, die Schweizer seien neutral. Von feige war nie
die Rede.«
»Ich bin nicht feige, Amerika.«
»Verrate mir eines.«
»Was?«
»Warum bringst du uns nach Norden? Warum nicht zurück nach Athen?«
»Ich will heim. In die Schweiz.«
»Was tust du dann hier? Italien ist näher an der Schweiz als
Griechenland.«
»Meine Angelegenheiten gehen dich gar nichts an.«
»Quatsch. Du hast sie längst zu meinen gemacht. Wenn du die Absicht
hast, mich zu töten, dann erkläre mir wenigstens den Grund.«
»Ich habe hier ⦠geschäftlich zu tun.«
Meine hochgezogenen Augenbrauen sind vergeudete Mühe, weil er hinter
mir geht. »Wo auf der Welt gibt es noch geschäftliche Dinge zu erledigen?«
»Du weiÃt gar nichts, Amerika.« Er streckt den Arm aus und stupst
Irinis Wange mit der Pistole an. »Was ist mit ihrem Gesicht passiert?«
»Feuer. Ein Unfall in ihrer Kindheit.«
»Die Narben sehen aber frisch aus.«
»Sie hatte einen Sonnenbrand.«
Ich denke nicht daran, Irinis Geheimnis zu verraten.
Sie bedankt sich später, als der Schweizer stehen bleibt und an die
Wand einer Tankstelle uriniert. Ich drücke ihr die Hand. Es tut mir leid, dass
ich Irini in diese Geschichte hineingezogen habe, und bin doch selbstsüchtig
froh, dass ich nicht allein bin.
Die Nacht kommt mit all ihrem Gepäck, aber ohne den
melodramatischen Auftritt des Tages. Sie bringt ein Gastgeschenk mit: ein
kleines Hotel, das sich wie ein schlichter weiÃer Vanillekuchen in die nächste
StraÃenkurve schmiegt. Der Swimmingpool hinter dem schmiedeeisernen Zaun hat sich
als eine Art Sumpf maskiert; fauliges Laub und Schimmel bedecken die
Wasserfläche. Esmeralda wartet, während wir müde nach drinnen schlurfen. Der
Schweizer ist hinter uns. Immer ist er hinter uns. Immer hat er die Pistole
schussbereit.
Die Toten sind noch im Haus, ausgestreckt auf einst blütenweiÃen
Laken. Ihre letzte Ruhestätte ist so weit weg von der Heimat â wo immer das
sein mag. Selbst der kräftigen Brise ist es nicht gelungen, den Geruch aufs
Meer hinauszutragen.
»Schafft eine Matratze nach drauÃen«, blafft der Schweizer.
Wir nehmen sie von einem französischen Bett in einem der leeren
Zimmer. Sie ist ordentlich bezogen, und wir lassen sie so, bis sie sich da
befindet, wo er sie haben will â dicht neben dem schmiedeeisernen Gitter. Ich
warte vergeblich darauf, dass er uns befiehlt, noch so ein Ding ins Freie zu
schleppen.
»Ist die für uns?«, frage ich.
»Ja.«
»Und du?«
»Ich brauche keinen Komfort. Das ist was für Schwächlinge.«
Ich unterdrücke mühsam eine scharfe Antwort. »Danke.«
Sein Lachen klingt gemein. »Ihr habt den Schlaf dringend nötig. Bald
sind wir in Volos.«
Was hast du dort zu erledigen, du Mistkerl?
Irini und ich teilen uns Handschellen und ein Bett: Der Schweizer
geht kein Risiko ein. In dieser Nacht kommt Nick nicht zu mir. Ich bin zu weit
weg, eingehüllt in knisternd saubere Laken, unter dem Kopf das weichste Kissen,
das ich je erlebt habe. Hoffentlich verzeiht mir Nick.
»Haben die Damen Probleme?«, fragt der Russe. Er trägt eine
Badehose und stellt sich vor: »Also, ich bin Iwan.« Für einen Mann in einer
kaputten Gesellschaft sieht er gut aus. Gesund. Eine Spur zu hager, aber nicht
unterernährt.
Ich spüre die Pistolenmündung im Rücken.
Ich bete, dass mein Lächeln echt wirkt. »Nein, alles in Ordnung.
Danke der Nachfrage.«
»Wohin gehen Sie?«
»Ein Verwandtenbesuch in der Nähe von Volos. Sie kennen die Stadt?«
Er kratzt sich am Kopf. Wirft einen Blick über die Schulter.
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