White Horse
gleichen Gen-Pool, und auch wenn wir
uns nicht allzu ähnlich sehen, ist unsere Mimik doch dieselbe. Die ständige
Angst hat ihr früher rundliches Gesicht ausgezehrt, sodass Kinn und Wangenknochen
scharf unter der Haut hervortreten wie bei einer übertrieben aufgestylten
Titelbild-Schönheit. Zwischen ihren Brauen steht eine Falte, selbst wenn sie
wie jetzt eben ein unechtes Lächeln aufsetzt. Ich mache das Spiel mit. Und sie
weiÃ, dass ich weiÃ, dass sie es weiÃ.
Mit meinem falschen Grinsen laufe ich die Steintreppe hinauf, obwohl
ich mich viel lieber auf den Boden setzen, ganz klein zusammenrollen und hin
und her schaukeln würde, bis die Welt ihren Zeiger wieder auf normal
zurückstellt. Aber ich muss für Jenny stark sein, weil Mark da drauÃen kämpft.
Wie so viele andere hat er seine Computertastatur und -maus gegen eine Waffe
und eine verbilligte schusssichere Weste eingetauscht.
Es folgt unser tägliches Ritual: Umarmung und Kuss auf die Wange.
»Wie war dein Arbeitstag?«, fragt sie, als sei es das, was momentan
in dieser Welt zähle.
»Gut. Und wie geht es dir?«
»Gut. Kommst du?«
»Klar.«
Weitere Lügen.
Wir schieben die hohe Doppeltür auf, wenden uns nach links und gehen
auf die mit Kork verkleidete Wand am anderen Ende der Eingangshalle zu.
Die Liste ist bereits angeschlagen. Ich weià nicht, wer diese
traurige Pflicht übernimmt. Aber jemand tut es gewissenhaft. Heute enthält sie
über hundert Namen â und sie gilt nur für unsere Stadt, nicht für das Land. Die
Gewalt eskaliert. Oder die Soldaten sterben an der gleichen Seuche wie die
Leute hier. Schwer zu sagen. Die Zeitungen schreiben nur über unsere Siege.
AuÃerdem überschütten sie uns mit einem steten Strom an Promi-Klatsch,
herzerwärmenden Geschichten und nebensächlichen Missständen, damit wir nicht
nach dem Was , Wo oder Warum fragen. Das Gleiche gilt für die wenigen
Nachrichtenkanäle, die noch senden.
Jenny hält mich so fest umklammert, dass sie mir fast die Finger
zerquetscht. Ich zucke zusammen, sage aber nichts und ziehe auch die Hand nicht
weg. Sie muss ihren Schmerz weitergeben, und ich muss lernen, ihn anzunehmen.
Sollte ich nämlich den Namen von Nick dort oben entdecken, würde ich mit meinen
Gefühlen hinter diesem körperlichen Schmerz Schutz suchen.
Wir schlieÃen uns dem Pulk von mehreren Hundert Menschen an und
warten, bis wir an der Reihe sind.
Das ist der schlimmste Teil â das Warten. Vor allem, wenn wir den
Namen eines Bekannten lesen. Wir haben einige gesehen. Leute, die wir von der
Schule kennen. Oder frühere Kollegen. An solchen Tagen verlassen wir die
Bibliothek mit hängenden Köpfen und reden erst wieder, wenn wir die
Eingangsstufen hinter uns gelassen haben. Wir bleiben an der StraÃenecke stehen
und trinken stumm einen Kaffee, bis eine von uns herausbringt: »Hoffentlich
musste er nicht lange leiden.« Wie der Krieg nun mal ist, dürften die Chancen
dafür fünfzig zu fünfzig stehen. Entweder eine Kugel erledigt dich sofort, oder
du hängst dich so lange wie möglich an das Leben, das dich abzuschütteln
versucht wie ein zorniger Tiger.
»Er ist bestimmt nicht dabei«, sage ich.
»Er ist bestimmt nicht dabei«, wiederholt sie.
Die Leute ganz vorn in der Schlange weichen zur Seite und wenden
sich dem Ausgang zu, während wir Schritt für Schritt nachrücken. Für kurze Zeit
lächeln sie entspannt, und ich beneide sie. Sie wissen bereits, dass sie morgen
wiederkommen werden.
Ein schmerzerfüllter Aufschrei bricht sich Bahn. Ich zucke zusammen,
denn obwohl mit solchen Ausbrüchen zu rechnen ist, hoffe ich jedes Mal, dass
wir alle die Eingangshalle mit diesem flüchtigen Lächeln verlassen werden. Wie
dumm von mir.
»Nein, nein. Das ist eine Lüge«, kreischt die Frau. Sie befindet
sich am Rande der Hysterie. »Die haben sich getäuscht.« Sie trifft Anstalten,
die Liste von der Wand zu reiÃen, wird aber von den Umstehenden daran gehindert
und weggedrängt. »Leckt mich doch am Arsch!«, zetert sie. »Meinetwegen
kreuzweise! Ich hoffe, dass eure Söhne, Väter und Männer alle verrecken! Warum
soll es euch besser ergehen als mir? Leckt mich â¦Â«
Ich versuche mich aus der Menge zu lösen, um sie zu trösten, aber
Jenny hält mich fest. »Bleib bei mir«, wispert sie.
Die Frau packt einen
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