White Horse
Stapel Zeitungen, Freiexemplare eines lokalen
Blatts, das auf Veranstaltungstermine hinweist. Sie sind jetzt zwei Monate alt,
Ãberbleibsel einer Zeit, als ein Konzert oder Theaterstück noch Besucher
anlockte.
»Da, ihr Wichser!« Sie wirft der nächstbesten Person eine Zeitung
ins Gesicht. »Und da!« Wieder fliegt eine Zeitung. »Und da â und da!« Sie zieht
das letzte Wort in die Länge, bis ihr die Luft wegbleibt.
Einige schauen ihr nach, als sie sich mit schlurfenden Schritten
entfernt. Sie sind zu kaputt, um sich von ihren Attacken gekränkt zu fühlen.
Der Rest wagt es nicht, sie anzusehen, aus Furcht, selbst die Fassung zu
verlieren. Ein Name auf einer Liste könnte bewirken, dass sie genauso handeln
wie diese Frau.
Als wir endlich vor der Liste stehen, hält Jenny meine Hand so fest,
dass meine Finger weià werden.
»Ich kann nicht hinsehen.« Das sagt sie immer, und immer starrt sie
regungslos die Liste an, bis mit Sicherheit feststeht, dass sich Mark nicht
unter den Opfern befindet.
Wir halten Ausschau nach Nugent, Mark D. Nugent. Es ist mein Finger,
der das Verzeichnis suchend entlanggleitet und schlieÃlich das Ende der
N-Rubrik erreicht, ohne auf Marks Namen zu stoÃen.
Jenny umklammert meinen Arm. »Er ist nicht dabei. Er ist nicht
dabei. Lies noch mal!«
Aber mein Finger gleitet bereits weiter, tiefer, immer tiefer, bis
ich bei R angelangt bin. Ramirez, Rittiman, Roberts. Kein Rose.
»Er ist nicht dabei, Jen.«
»Lies noch mal!«
Ungeduldige FüÃe scharren hinter uns. Ich überfliege noch einmal den
Buchstaben N. »Mark lebt.«
Jennys Lächeln macht sie um fünf Jahre jünger. »Er lebt.«
Keine von uns sagt noch .
Danach vollziehen wir unser neues Ritual. Wir nehmen uns in
einem nahen StraÃenverkauf zwei Becher Kaffee mit und bleiben noch ein wenig an
der Ecke stehen, wo sich unsere Wege trennen.
»Wen suchst du eigentlich?«, erkundigt sich Jenny. »Auf der Liste,
meine ich.«
Meine Finger verkrampfen sich um den heiÃen Becher mit dem noch
heiÃeren Kaffee, doch obwohl die Wärme in meine Haut sickert, überläuft mich
ein Schauer. Ich werfe einen prüfenden Blick zum abendlichen Himmel. So kalt
dürfte es im Oktober eigentlich nicht sein.
Ich wende mich wieder Jenny zu. Sie sieht mich an, als wollte sie
sagen: Du verschweigst mir etwas. Und damit hat sie
nicht unrecht.
»Niemanden.«
»Wenn du meinst.«
»Nun ja, einen Freund. Nichts Ernstes.« Und das stimmt irgendwie,
obwohl in meinem Herz oder in meiner Seele ein Loch klafft, das groà genug ist,
um einen Bus darin zu parken.
»Ich kenne diesen Blick.«
Ich sage nichts.
»Den kriege ich jeden Abend, wenn ich weiÃ, dass Mark wieder einen
Tag heil überstanden hat. Dann kann ich meine Maske fallen lassen und wieder
Hoffnung schöpfen. Deshalb genieÃe ich es, danach noch einen Kaffee zu trinken,
weil das der eigentliche Beginn meines Tages ist. Morgen früh beginnt die
Totenwache von vorne.« Ich will etwas einwerfen, aber sie lässt mich nicht zu
Wort kommen. »Es ist eine Totenwache, Zoe. Wir wissen es beide.«
Wenn du eine Schwester hast, hältst du einen Spiegel in deinen
Händen.
ELF
ZEIT: JETZT
Mir ist, als würde ich Lisa durch Alices Spiegel
betrachten. Nichts an ihr ist mehr so, wie es sein sollte. Mit jedem Tag
entgleitet ihr die Realität ein wenig mehr, taucht ihr Wesen etwas tiefer in
dunkle Gewässer. Sie starrt aufs Meer hinaus, immer mit einem
heimlichtuerischen Lächeln, das sofort verschwindet, wenn jemand in ihre Nähe
kommt.
Sie hält Nachtwache auf dem Achterschiff, die FuÃspitzen nach auÃen
gedreht wie eine Ballerina in der ersten Position, die Hände leicht auf die
Relingstange gelegt. Die Haare kleben ihr fettig am Kopf, weil wir zu wenig
Shampoo und seit Wochen zu viel Regen haben. Ihre Wirbelsäule tritt so deutlich
hervor, dass sie nicht mehr zu ihr zu gehören scheint, ein fremdartiges Wesen,
das jeden Moment mit dem Schwanz peitschen könnte. Die dünne Luft und die Konservenkost
haben das Fleisch von unseren Knochen gesäbelt und nur so viel übrig gelassen,
dass wir mit Mühe und Not am Leben bleiben. Jedes Mal, wenn ich mich in den
Glasschiebetüren der Fähre erblicke, stelle ich mir die Frage, ob diese
Vogelscheuche mit den Steckengliedern wirklich ich bin. Ich habe mich robust
und gesund in Erinnerung,
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