White Horse
Beleidigung, weil dieser Junge anders ist als alle
Kids, die ich kenne. »Sie sind Journalist?«
Sein Blick verharrt an meinem linken Ohr. Wandert hinüber zu meinem
rechten Ohr. Dann hinunter zu meinen Händen. Zu einem Punkt über meinem Kopf.
»Jesse Clark, United States Times . Ich hatte früher
einen Internet-Blog. Vielleicht haben Sie schon von mir gehört.« Er macht eine
unnatürlich lange Pause.
Ich versuche, dem Surrealismus ein Ende zu bereiten.
»Nein, nie. Nicht von dem Blog, nicht von Ihnen und auch nicht von
der United States Times . Tut mir leid.«
»Sie ist neu.« Der Junge verströmt die Begeisterung eines ganzen
Wurfs noch blinder Welpen. »So viele Leute sind in den Krieg gezogen, dass es
einfach nicht mehr genug qualifizierte Journalisten und Zeitungsleute gibt.
Deshalb wollen die jetzt eine groÃe Zeitung, die allen Daheimgebliebenen das
Gleiche berichtet. Das sei einfacher, behaupten sie. Ich glaube aber, dass es
sich um eine Verschwörung handelt. Dass die Regierung die Nachrichten
kontrollieren will. Andererseits kriege ich Geld für meine Storys, und das ist
klasse, weil ich mir zum ersten Mal eine eigene Wohnung leisten kann. Ich lerne
auch kochen. Heute Morgen habe ich mir Haferbrei gemacht, in der Mikrowelle.
Und gestern Abend ein Omelett. Mit Paprikaschoten und Speck. Im Rezept stand
zwar Schinken, aber ich bevorzuge Speck.«
Wieder wartet er, als sei das Ganze eine Schachpartie und ich nun am
Zug.
»Ich mag Speck auch lieber.«
Er strahlt und visiert die Armlehne an. »Darf ich mich setzen?
Eigentlich sollte ich ja warten, bis Sie mir einen Platz anbieten, weil sich
das so gehört, aber ich weià nicht, ob und wann Sie das tun werden, und wenn
ich längere Zeit mit dem Rücken zur Fahrtrichtung stehe, wird mir schlecht.«
Im Normalfall würde ich nicht weiter darauf eingehen und hoffen,
dass er irgendwann verschwindet, bevor das Ganze zum Problem ausartet. Aber was
ist heutzutage noch normal? Also deute ich vage neben mich und bete, dass er
den Gangplatz und nicht den Sitz in der Mitte der Dreierbank ansteuert.
Er entscheidet sich richtig. »Ich mag nicht in der Mitte sitzen,
weil das irgendwie das Gleichgewicht stört. Aber Sie am Fenster und ich am Gang â das ist fast symmetrisch.« Steif und ordentlich nimmt er Platz. Streift seine
Chino glatt, rückt die Tasche zurecht und legt die Hände flach auf die
Oberschenkel. »Danke. Ich muss Danke sagen, weil das höflich ist.«
»Bitte.«
»Das ist auch höflich.« Er starrt vor sich hin. »Ich möchte Ihnen
ein paar Fragen stellen, wenn Sie das nicht stört. Ich bin einer Sache auf der
Spur, von der noch niemand etwas weiÃ. Sie halten mich vielleicht für verrückt,
und das stört mich nun wieder nicht, weil mich die meisten Leute für verrückt
halten. Selbst meine beste Freundin Regina hält mich für verrückt, aber das ist
okay, weil sie meine Freundin und selbst ein bisschen daneben ist. Meine Eltern
halten mich auch für verrückt. Sie sagen es nicht, aber ich merke es trotzdem.
Mein Dad wird immer wütend, weil ich nicht so gut Auto fahren oder FuÃball spielen
kann wie meine Brüder, und dann schimpft ihn meine Mom. âºEr ist ein kluger
Jungeâ¹, sagt sie immer. âºEr ist nur anders.â¹ Ich liebe meine Mom. Ich meine,
ich mag auch meinen Dad, weil sich das einfach gehört, dass man seine Eltern
mag. Aber ich liebe ihn nicht so wie meine Mom. Mögen Sie Ihre Eltern?«
»Sie sind anständige Leute.«
Jesse nickt. »Nun, vor ungefähr einem Monat las ich die Zeitungen,
und da fiel mir etwas ganz Merkwürdiges auf. Ich bekam nämlich alle groÃen
Zeitungen, weil ich doch diesen Blog hatte und immer auf dem neuesten Stand
sein musste. âºDie Konkurrenz im Auge behaltenâ¹, so nannte das mein Dad. Nur
erübrigt sich das jetzt, wo es kein Internet mehr gibt und niemand meinen Blog
lesen kann. Wenn die Zeitungen kommen, schneide ich die einzelnen Artikel aus
und breite sie im Keller auf dem Boden aus. Der ist ganz eben, und da unten
störe ich keinen, wenn ich sie hin und her schiebe und ordne, bis alles
zusammenpasst. Was ich suche, sind bestimmte Muster. Und im vergangenen Monat
habe ich alle möglichen Muster entdeckt. In den Traueranzeigen. Zurzeit sterben
ganz viele Leute, die normalerweise noch lange zu leben hätten, und die
Todesursache ist immer
Weitere Kostenlose Bücher