White Horse
erinnere ich sie daran, dass
sie von drei Sorten Menschen gesprochen und bisher nur die Toten abgehandelt
hat.
»Ganz recht, die beiden anderen. Einmal die Lebenden wie du und ich,
die von White Horse verschont geblieben sind. Die, aus welchem Grund auch
immer, immun zu sein scheinen. Ob das nun Glück oder Pech für uns ist, lässt
sich im Moment schwer entscheiden.« Sie setzt sich aufrecht hin und starrt in
den Fernseher. Der Präsident hält eine Pressekonferenz ab. Die meisten Plätze
bleiben leer. »Und dann die anderen.«
»âºDie anderenâ¹?«
»Sag bloÃ, dass sie dir bisher noch nie begegnet sind! Es sind die
Leute, die zwar erkrankten, aber nicht starben. Zumindest nicht sofort.«
Ich denke an Mike Shultz â den Mann, der Mäuse verspeiste. An einem
Tag wirkte er schwer krank, am nächsten ergänzte er seine Kost mit
Versuchstieren. Ich denke an meinen Vater und seine Verwandlung in Mister Hyde.
Ich kann es drehen, wie ich will â normal sind diese Verhaltensweisen nicht.
»Doch, ich habe einige gesehen. Aber ich dachte, das seien â¦
Einzelfälle.«
Sie deutet mit dem Kinn zum Fernseher und greift nach der
Fernbedienung.
»Die Menschheit wird nicht überdauern.«
Die ganze Nation vernimmt diese Worte. Köpfe drehen sich wie
Sonnenblumen dem Licht entgegen. Ein Keuchen geht durch die Menge, und
Sekundenbruchteile später merkt der Präsident der Vereinigten Staaten, dass
sein Mikrofon nicht abgeschaltet war.
Wir sehen, wie sich seine Augen vor Entsetzen weiten und seine
Mundwinkel plötzlich schlaff nach unten hängen, als ihm die Wahrheit dämmert:
In diesem Moment wissen wir Ãberlebenden alle, dass unser Staatsoberhaupt den
Glauben an das Volk verloren hat.
Er fasst sich an den Kopf. Er ist Der Schrei von Edvard Munch.
Sergeant Morris vergräbt das Gesicht in beiden Händen â so schlimm
ist das alles. »Ich dachte immer, ich sei der Typ, der bis zuletzt durchhält,
aber jetzt bin ich nicht mehr so sicher, ob das gut ist. Wenn ich nur wüsste â¦Â«
»Was wüsste?«
»Wie es begann. Der Krieg, die Krankheit, alles. Ich wollte, ich
könnte den einen oder anderen Hals dafür umdrehen. Vielleicht würde ich mich
dann besser fühlen. Da das leider nicht geht, versuche ich wenigstens an die
Dinge ranzukommen, die wir am dringendsten benötigen. Sobald sich die ersten
Probleme zeigten, machten sich nämlich die Plünderer an die Arbeit. Besonders
beliebte Ziele waren Drugstores.«
»Und Elektronikläden.«
»Genau. Die Welt ist im Arsch, und die Leute klauen
GroÃbild-Fernseher. Als ob die sie retten könnten.«
Die Welt liegt in Trümmern vor uns. Ich habe keine Lust, dazusitzen
und mich darüber auszulassen, was ich nach dem Verlust meiner Angehörigen
empfinde. Ich will nicht hier auf dieser Couch liegen und auf das Ende aller
Dinge warten. Und es kommt, dieses Ende. Der Präsident weià es, die Frau neben
mir weià es, und ich weià es. Das Ende kommt. Ich bin nicht sicher, dass es
eine Armageddon-Schlacht geben wird. Dafür reicht die kleine Schar von
Gläubigen, die ihre Fäuste schütteln und rufen: »Da seht ihr es! Wir hatten
doch recht!«, vermutlich nicht aus. Es gibt keinen groÃen Anführer, der uns
versammelt, um uns Strichcodes auf die Stirn zu stempeln. Meine Bibelkenntnisse
halten sich in Grenzen, aber ich bin sicher, dass der Mensch als sein eigener
Antichrist in der Religion nicht vorgesehen war.
Ein dünner Luftstrom entweicht meinen Lungen. »Ich gehe nicht zu
Ihrem Seelenklempner.«
»Ich kann Sie zwingen.« Keine Ãberzeugung in der Stimme â nur
abgrundtiefe Müdigkeit.
»Sie können es versuchen, aber Sie sind überfordert. Ich weigere
mich ganz einfach. Wenn Sie mich zwingen, werde ich nur dasitzen und kein Wort
sagen.« Ich atme tief durch und verdränge den Gedanken an all die Verluste, die
ich erlitten habe. »Und überhaupt, das kann doch nicht der wahre Grund für Ihr
persönliches Aufkreuzen sein.«
»Sie haben recht«, sagt sie. »Zumindest teilweise. Eigentlich komme
ich, weil wir Leute brauchen, deren Körper und Verstand nicht infiziert ist.
Beides trifft auf Sie zu.«
Der Gedanke gefällt mir. Ich will mehr sein als ein Bestandteil
meiner Couch. Und das sage ich ihr.
»Ich kann Ihnen Medikamente besorgen«, setze ich
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