White Horse
Familie.
Dann erst verstehe ich die Worte des anderen.
Warum hat jemand auf Jenny geschossen?
ZEIT: JETZT
Ich starre in eine lange dunkle Röhre. Das Licht am
anderen Ende rast auf mich zu, als sich der Durchgang wie ein Teleskop
zusammenschiebt, und weicht wieder zurück, als er sich in unermessliche Fernen
dehnt. Zeit und Raum verschieben sich. Der Verstand sagt mir, dass ich immer
noch in jenem Lagerhaus sitze, von dem Schweizer durch einen Wall von
Olivenöl-Kanistern getrennt. Dieses Wissen macht den Tunnel nicht weniger real.
Fühlt sich Sterben so an? Warten alle, die ich verloren habe, am anderen Ende
der Passage auf mich? Haben sie mir verziehen? Lieben sie mich immer noch so,
wie ich sie liebe?
»George Pope? Was kümmert er dich? Er ist tot.«
Seine Stimme klingt freudig erregt. »Tatsächlich? Gut so. Ich hoffe,
er ist unter Schmerzen verreckt. WeiÃt du es?«
»Was?«
»Ob er qualvoll starb. War es diese Seuche, die ihn umbrachte? Seine Seuche?«
»Nein«, sage ich. »Es ging ganz schnell.«
»Wie schnell?«
»Sag mir, was du in Lisas Bauch gefunden hast.«
»Nichts. Absolut nichts. Ihr Bauch war leer. Genau wie bei dir.«
ZEIT: DAMALS
Wer hätte gedacht, dass die Sonne so kalt sein kann? Ihr
greller Schein, gedämpft durch dunkles Glas, legt sich auf mein Gesicht. Ich
befinde mich in einem schlichten Raum mit einer Holztür, in die farbige
Scheiben eingelassen sind. Keine Gitter. Aber das bedeutet nicht, dass dies
hier keine Zelle ist. Ein Gefängnis benötigt nicht unbedingt Eisenstäbe.
»Ich brauche eine Zeitung«, erkläre ich der Frau, die mir das Essen
bringt.
Sie knallt das Tablett auf meinen Tisch, den das jedoch nicht weiter
erschüttert. Er ist an der Wand verankert, mit Bolzen, die so dick sind, dass
sie selbst einen Atomkrieg überdauern würden. Alles andere könnte verdampfen,
aber sie wären immer noch da, zu stur, um sich aus den Betonblöcken zu lösen.
»Wir sind hier nicht im Holiday Inn«, erklärt sie.
»Du meine Güte, das war mir gar nicht aufgefallen.«
Sie stampft zurück zu ihrem Essenwagen, einem hohen, dünn isolierten
Kasten in Beige, der so aussieht, als hätte ihn jemand aus einer Bordküche
geklaut. Die gesamte Einrichtung hier ist offenbar geborgt, erbettelt oder
geschenkt.
Das Essen allerdings verdient fünf Sterne. Keine matschigen dunklen
SoÃen mit graubraunen Fleischstücken und keine Gelatine-Nachspeisen auf
Papptellern. Stattdessen gibt es hausgemachte, in brauner Butter gewälzte
Ravioli mit Ricotta-Spinatfüllung. Dazu wird eine kleine Schale knackiger
Kopfsalat gereicht, angerichtet mit einer Vinaigrette, die garantiert nicht aus
Plastikflaschen stammt. Und als Nachtisch bekommen wir einen Obstsalat mit
köstlichen Fruchtstückchen, die keiner der hiesigen Supermärkte auf Lager hat.
Sie brachten mich nach Jennys Tod hierher. Zur Beobachtung, wie die
Frau in Uniform erklärte. Eine Militäruniform. Irgendwann auf dem Weg ins Chaos
hatte der Präsident das Kriegsrecht verhängt, aber niemand dachte daran, das
Volk darüber in Kenntnis zu setzen. Soldaten patrouillierten durch die Stadt
und hielten Ausschau nach Unruhestiftern oder Leuten, die Aufsehen erregten.
Dazu gehörte offenbar auch ich. Sie zogen mich von meiner Schwester weg. Aber
sie können mir nicht sagen, wer sie erschoss, oder warum. Ich verstehe gar
nichts mehr. Auf meine Fragen bekomme ich nur ein Achselzucken. »Glaubt ihr,
dass ich es war?«, erkundige ich mich mehr als einmal.
»Das wissen wir nicht.«
Schritte kommen näher. FrauenfüÃe in schweren Stiefeln.
»Zoe Marshall?« Die Stimme der dunkelhäutigen Frau ist mächtiger als
ihr Körper. Sie sieht aus wie ein Pez-Spender im Kampfanzug. In einer Hand hält
sie ein Klemmbrett, in der anderen einen Becher Kaffee. Den Kaffee reicht sie
mir.
Ich nicke. Wer sollte ich sonst sein?
»Sergeant Tara Morris. Sie können gehen. Aber ich möchte, dass Sie
sich morgen wieder hier einfinden und mit unserem Psychotherapeuten sprechen.«
»Hier? Ich weià nicht mal, wo hier ist.«
Sie spult die Adresse herunter.
»Das war mal eine Privatschule, wenn ich mich richtig entsinne.«
»Jetzt nicht mehr. Wir sind eine Art offene Einrichtung, die ihren
Insassen möglichst viel Freiraum bietet. Wir betreuen die Leute, bis
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