Wider die Unendlichkeit
Mutter.«
»Was? Ich habe dir gesagt, ich will nichts hören …«
»Das weiß sie. Ich habe mit ihr gesprochen, in ihrer Stimme etwas gehört …«
»Das will ich hier nicht diskutieren.« Beim Aufstehen warf er den Stuhl um. Sie ist wie die anderen, dachte er. Überall, vor jedermann von solchen Dingen redend, plappernd …
»Nein! Hör zu! Der Anruf war nicht wie ihre Anrufe bisher. Das hat schon vor Jahren aufgehört. Sie …«
Sein Gesicht war zornesrot. »Nein!« Er begann wegzugehen.
»Manuel! Sie hat mich angerufen, weil sie wußte, du würdest einhängen. Sie mußte dir mitteilen, daß … dein Vater, er ist tot.«
Teil 5
HEIMKEHR
1.
Prüfend sah Manuel sich im Bahnhof um. Er fühlte den Widerhall halb vergessener Emotionen, als er die Menge betrachtete, die auf den schlanken Linienzug wartete, und sich an das einzige Mal erinnerte, daß er hier gewesen war: vor sechs Jahren, als er nur mit einem Bündel auf dem Rücken, stumm und verbissen, von Zorn und Trotz beseelt, nach Hiruko gekommen war. Damals schienen die lasergeschliffenen Steinsäulen in der Unendlichkeit sich zu verjüngen, höher als jedes Gebäude, das er je gesehen hatte, höher noch als eine Agro-Kuppel. Staubkörner von beträchtlicher Größe schwebten hoch unter den glasigen Streben und fingen das Bernsteinlicht ein, das sich in den hellen Pfeilern brach. Dichte Luft hatte sich wie ein warmes Vlies in seinem Brustkorb gesammelt, das erste greifbare Zeichen von Hirukos Überfluß. Die Damen, die in ihren Spitzenkleidern gewandt die Treppen hinaufstiegen, die Männer glattrasiert und schlank – alles war ihm, verglichen mit den schwerfälligen, mit Parkas vermummten Gestalten, die er von Sidon gewohnt war, exotisch erschienen. Hier trug niemand einige Extrakilos Fett auf den Hüften oder an den Schultern zum Schutz gegen Kälte oder Erschöpfung mit sich herum. Hier wurde eine Jacke oder eine Weste fürs Auge, nicht für den Metabolismus geschneidert.
Zögernd, immer noch beeindruckt von ihrer majestätischen Wirkung, hatte er den Bahnhof verlassen. Die Mengen trugen ihn mit sich, Stunden hatte er in den endlosen, miteinander verknüpften Gängen und Korridoren verbracht, zu scheu, um an eine Tür zu klopfen und zu fragen. Die ungewöhnlich breiten Straßen hatte er zuerst für zeitweilig leere Montagebereiche gehalten, weil sie soviel Platz vergeudeten. An jeder größeren Kreuzung ragten in gleichmäßigen Abständen elegante Kristallrhomboiden über dem Menschengewühl. Er hatte eine weitere Stunde gebraucht, um zu merken, daß es sich um die Computer-Schnittstellen handelte, die er suchte. Ihre Größe erschien ihm verschwenderisch, und er hatte sich gescheut, nach einem Plan zu fragen. Erst nachdem er den Arbeitskoordinator gefunden und gemeldet hatte, daß er zur Verfügung stand, hatte er sich entspannt genug gefühlt, in einem der Gehwegcafés schüchtern einen Drink und dann eine Schüssel Suppe zu bestellen. Dann, als er fertig war, hatte er zu bezahlen versucht und war zur Zielscheibe des Gelächters geworden. Er fühlte immer noch eine Spur der ohnmächtig stummen Wut des hilflosen jungen Mannes. Es schien alles so lange zurückzuliegen.
»Ich glaube trotzdem, du hättest deiner Mutter etwas mehr sagen sollen«, meinte Belinda und schnitt seine Erinnerungen damit ab.
»Ich habe ihr gesagt, ich käme nach Sidon zurück. Darum hat sie mich doch gebeten, oder?«
»Sie schien so erschüttert.«
»Es war keine angenehme Geschichte.«
»Nein. Mußtest du die Bilder des Leichenbeschauers anfordern?«
Er verzog das Gesicht zur Grimasse. »Si, mußte ich. Ich mußte es wissen.«
»Wissen, daß er unter Schmerzen starb? Daß ein Eisbeben ihn in den Laserstrahl schleuderte? Du mußtest ihn so zerfetzt sehen?«
»Das ist etwas, was ein Sohn tun muß.«
»Ein Sohn, der …« Sie verbiß sich die Worte. Er wußte genau, was sie beinahe gesagt hätte: Ein Sohn, der seit sechs Jahren nicht mit seinem Vater gesprochen hat? Ein Sohn, der sich weigerte, alle ihre Anrufe, ihre Briefe entgegenzunehmen? Der die Freunde aus Sidon, die gelegentlich vorbeischauten und versuchten, das Thema anzusprechen, einfach ignorierte?
»Richtig. Das alles ist jetzt zu Ende. Es stand etwas zwischen uns, jetzt ist es fort. Wenn er tot ist, behandelst du ihn als den Vater, der dich auf die Welt gebracht hat. Du läßt den letzten Streit nicht für alles zählen.«
»Ich verstehe«, sagte sie leise.
Ein Zug kreischte in
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