Widersacher-Zyklus 01 - Das Kastell
Hand verschwand wieder, und kurz darauf waren auch die Augen nicht mehr zu sehen. Doch die drohenden Worte hingen nach wie vor in der Luft. Allmählich wich die Finsternis und kroch in die dicken Mauern zurück. Das Licht der Glühbirne wurde wieder heller und fiel auf die angebissene Knoblauchknolle in der einen Ecke des Zimmers.
Cuza kauerte in seinem Rollstuhl, und eine Zeitlang rühr te er sich nicht. Dann bemerkte er seine stark angeschwollene Zunge, die noch trockener war als sonst. Gedankenverloren griff er nach dem Becher und trank einen Schluck Wasser.
Anschließend starrte er auf das Kästchen und zögerte, bevor er sich einen inneren Ruck gab, den Deckel öffnete und das Kreuz hervorholte. Wortlos legte er es auf den Tisch.
Ein kleines Objekt, das völlig harmlos wirkte. Es bestand aus Silber, in dem sich winzige Verzierungen zeigten. Nur ein einfaches, schlichtes Kreuz, weiter nichts.
Cuza fühlte sich fest im Judentum und seiner jahrtausendealten Tradition verwurzelt. Er hielt das Tragen eines Kreuzes daher für einen unnötigen Brauch, der darauf hindeutete, daß es den Betreffenden an religiöser Reife mangelte. Andererseits war das Christentum ein relativ junger Ableger des Judentums. Es brauchte Zeit, um sich zu entwickeln. Molasar hatte das Kreuz als einen »abscheulichen Gegenstand« bezeichnet. Abscheulich? Nein, das wohl kaum. Grotesk, ja, vielleicht auch absurd, aber nicht abscheulich.
Jetzt bekam es eine ganz neue Bedeutung, wie so viele andere Dinge auch. Die Wände des Zimmers schienen Cuza entgegenzuwachsen, als er auf das kleine Kreuz herabstarrte, das sein ganzes Blickfeld auszufüllen begann. Das waren nur Symbole, mit denen Unheil gebannt werden sollte. Bei den Osteuropäern – insbesondere bei den Zigeunern – gab es viele solche Dinge, denen man eine fast magische Wirkung zusprach.
Aber Molasar hatte auf das Kreuz reagiert und sich offensichtlich davon abgestoßen gefühlt. Er konnte nicht einmal den Anblick ertragen … Das gespenstische Wesen verkörperte das Böse an sich – daran konnte kein Zweifel bestehen. Und es wich vor dem Kreuz zurück, einem Gegenstand, der angeblich das Gute darstellte. Es ist mehr als nur ein Symbol, dachte Cuza. Es hat Kraft.
Aus dieser Erkenntnis ergaben sich niederschmetternde Konsequenzen.
19. Kapitel
Die Feste
Donnerstag, 1. Mai • 06.40 Uhr
Zwei Nächte waren vergangen, ohne daß irgend jemand ums Leben gekommen war. Wörmann erlaubte sich eine Art vorsichtigen Jubels, als er sich den Gürtel umschnallte. Zum erstenmal seit einer halben Ewigkeit hatte er gut geschlafen und fühlte sich um so besser.
In der Feste herrschte noch immer eine düstere, bedrückende Atmosphäre – daran konnte es also nicht liegen. Nein, die Veränderung betraf ihn selbst. Er glaubte nun, eine echte Chance zu haben, lebend nach Rathenow zurückzukehren.
An diesem Morgen bereitete ihm nicht einmal das Gemälde Unbehagen. Der dunkle Fleck links neben dem Fenster sah noch immer wie eine Leiche am Galgen aus, aber das spielte nun keine Rolle mehr.
Wörmann ging die Treppe hinunter, und auf dem Absatz der ersten Etage begegnete er Kämpffer.
»Guten Morgen, verehrter Sturmbannführer!« rief Wörmann mit einer Freundlichkeit, die ihn selbst überraschte. Er freute sich darauf, daß der SS-Offizier und seine Truppe die Feste bald verlassen würden, aber ein wenig Ironie konnte sicher nicht schaden. »Wie ich sehe, hatten wir die gleiche Idee. Bestimmt sind Sie gekommen, um Professor Cuza auf Knien dafür zu danken, daß er deutsche Soldaten vor einem gräßlichen Tod bewahrte.«
»Wahrscheinlich hat er überhaupt nichts damit zu tun«, knurrte Kämpffer und schob trotzig das Kinn vor.
»Aber seitdem er sich hier bei uns befindet, ist niemand mehr ermordet worden. Sie kennen doch das Gesetz von Ursache und Wirkung, oder?«
»Reiner Zufall!«
»Und warum sind Sie dann hier?«
Kämpffer zögerte. »Um den Juden zu fragen, ob er irgend etwas in den Büchern gefunden hat.«
»Oh, natürlich.«
Der Sturmbannführer trat zuerst ein, und Wörmann folgte ihm. Cuza kniete vor dem ausgebreiteten Bettzeug auf dem Boden. Er betete nicht etwa, sondern versuchte, sich in die Höhe zu stemmen und in seinem Rollstuhl Platz zu nehmen. Der alte Mann warf ihnen nur einen kurzen Blick zu und setzte dann seine Bemühungen fort.
Wörmanns erster Impuls war, ihm zu helfen. Der Professor wirkte viel zu schwach und gebrechlich, um sich an den Armlehnen in die Höhe zu
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