Widersacher-Zyklus 01 - Das Kastell
er fünfhundert Jahre alt!«
»Bestimmt ist er noch weitaus älter. Leider konnte ich ihm nicht alle Fragen stellen, die ich an ihn richten wollte. Er hat seine eigenen Interessen. Und dazu gehört auch, die Eindringlinge aus der Feste zu vertreiben.«
»Das schließt dich mit ein.«
»Nicht unbedingt. Offenbar hält er mich für einen Landsmann, für einen Walachen, wie er sich ausdrücken würde. Meine Gegenwart scheint er zu akzeptieren. Er meint in erster Linie die Deutschen … Er ist ungeheuer wütend darüber, daß sie sich in seinem Kastell einquartiert haben. Oh, du hättest sein Gesicht sehen sollen, als er über sie sprach.«
»In seinem Kastell?«
»Ja. Er hat es erbaut, um nach Vlads Tod in Sicherheit zu sein.«
Magda atmete tief durch und stellte die wichtigste aller Fragen: »Ist er ein Vampir?«
»Ja, ich glaube schon«, erwiderte der Mann im Rollstuhl, sah seine Tochter an und nickte. »Zumindest ist er das, was die Bezeichnung ›Vampir‹ von jetzt an zum Ausdruck bringen sollte. Ich bezweifle sehr, ob die alten Überlieferungen den neuen Erkenntnissen standhalten können. Molasars Existenz zwingt uns dazu, einige Begriffe ganz neu zu definieren.« Er schloß kurz die Augen. »Und damit meine ich nicht nur diejenigen, die in irgendeinem Zusammenhang mit Vampirismus stehen.«
Magda versuchte mühsam, die instinktive Furcht zu überwinden, die bei dem Gedanken an Vampire in ihr entstand. Sie versuchte die Situation einer objektiven Analyse zu unterziehen und besann sich auf ihre wissenschaftlichen Talente. »Ein Lehensherr unter Vlad Tepes? Dann müßte der Name in bestimmten historischen Dokumenten Erwähnung finden.«
Der alte Mann sah wieder zur Feste. »Ja, vielleicht. Während seiner drei Herrschaftszeiten gab es Hunderte von Lehensherrn, die in irgendeiner Verbindung mit Vlad Tepes standen. Einige waren ihm freundlich gesinnt, andere standen ihm feindlich gegenüber … Von den letzteren wurden viele gepfählt. Du weißt ja, daß es nur noch wenige Unterlagen aus jener Zeit gibt, die ein wahres Chaos gewesen sein muß: Wenn nicht gerade die Türken gegen die Walachei in den Kampf zogen, griff ein anderes Heer an. Und selbst wenn wir geschichtliche Anhaltspunkte dafür finden, daß Molasar tatsächlich ein Zeitgenosse Vlads gewesen ist – was ließe sich damit beweisen?«
»Wahrscheinlich überhaupt nichts.« Magda kramte in den Schubladen ihres Gedächtnisses. Ein Lehensherr und treuer Anhänger von Vlad Tepes …
Sie hatte Vlad immer für einen blutroten Fleck in der rumänischen Geschichte gehalten. Der Sohn des Vlad Dracul wurde bald als Vlad Dracula bekannt, als Sohn des Drachen. Doch schon bald nannte man ihn Vlad Tepes, den Pfähler. Diesen Spitznamen hatte er sich durch seine bevorzugte Methode verdient, Kriegsgefangene, ungehorsame Untertanen, verräterische Lehensherrn und alle anderen Leute zu bestrafen, die ihm aus irgendwelchen Gründen ein Dorn im Auge waren. Manchmal erfüllten solche Maßnahmen auch einen strategischen Zweck: Im Jahre 1460 entsetzte der Anblick von zwanzigtausend gepfählten türkischen Gefangenen eine vorrückende Osmanenarmee so sehr, daß sich die Soldaten zurückzogen und auf einen Angriff verzichteten.
»Stell dir jemanden vor, der ausgerechnet Vlad Tepes treu ergeben ist«, murmelte sie.
»Vergiß nicht, daß damals völlig andere Maßstäbe galten«, erwiderte Theodor Cuza. »Vlad wurde von seiner Zeit geprägt, und das trifft auch auf Molasar zu. Außerdem wird in dieser Gegend Vlad noch immer als Nationalheld gefeiert. Er war die Geißel der Walachei, aber er hat seine Heimat gegen die Türken verteidigt.«
»Ich bin sicher, Molasar hatte seine Freude an Vlads Grausamkeiten«, sagte Magda. Ihr drehte sich der Magen um, als sie an all die Männer, Frauen und Kinder dachte, die aufgespießt und dadurch zu einem langsamen, qualvollen Tod verurteilt worden waren. »Bestimmt fand er sie recht unterhaltsam.«
»Wer weiß? Nun, es ist leicht zu verstehen, warum sich ein Untoter zu Vlad hingezogen fühlte: In seiner Nähe herrschte nie Mangel an Opfern. Er konnte das Blut der Sterbenden trinken, ohne daß jemand mißtrauisch wurde. Wenn es zu keinen unerklärlichen Todesfällen kommt, schöpft auch niemand Verdacht.«
»Willst du das Ungeheuer etwa verteidigen?« hauchte Magda.
»Wer hat das Recht, über Molasar zu urteilen? Wie ich eben schon sagte: Er ist ein Produkt seiner Umwelt. Sieh die Sache doch einmal aus einer anderen Perspektive,
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