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Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe

Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe

Titel: Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Gabe
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neben eine Plastikschönheit, die ihr Albert-Nipon-Kleid mit kaum verhohlener Feindseligkeit musterte.
    Du würdest da sowieso nicht hineinpassen, dachte sie, drückte Jeffy an sich und wartete.
    Ein kleines Mädchen, nicht viel älter als vier oder fünf Jahre, mit blauen Augen und langen blonden Haaren, kam auf sie zu und stellte sich vor Jeffy. Nachdem sie ihn eine Weile angesehen hatte, sagte sie: »Ich bin mit meiner Mutti hier.« Sie zeigte auf eine Frau, die am anderen Ende des Wartezimmers saß und in eine Zeitschrift vertieft war. »Da drüben sitzt meine Mutti.«
    Jeffy starrte über ihre linke Schulter und sagte nichts.
    »Meine Mutti ist krank«, sagte sie mit lauterer Stimme. »Ist deine Mutti auch krank?«
    Sie hätte ein Möbelstück sein können, so wie Jeffy von ihr Notiz nahm, aber ihre Stimme hatte die Aufmerksamkeit der anderen wartenden Patienten auf sich gezogen. In dem Raum wurde es spürbar ruhiger, so als ob alle auf eine Antwort warteten, die jedoch von Jeffy niemals kommen würde.
    Gespannt und aufmerksam biss sich Sylvia auf die Lippe und versuchte einen Weg zu finden, um die Situation zu entschärfen. Das kleine Mädchen jedoch tat es für sie.
    »Meine Mutti hat Durchfall, darum ist sie hier. Die ganze Zeit ist sie nur auf der Toilette.«
    Als im Wartezimmer ein verhaltenes Gelächter einsetzte, kam die Mutter des Mädchens mit hochrotem Kopf herüber und führte das kleine Mädchen zu ihrem Stuhl zurück.
    Jeffy lachte nicht, er lächelte nicht einmal.
    Kurz darauf wurden sie in den Untersuchungsraum gerufen. Sie setzte Jeffy auf den mit Papier bedeckten Tisch und zog ihn bis auf seine Turnhose aus. Er war noch trocken. Jeffy benutzte das Badezimmer, wenn es ihm passte, aber wenn er in etwas vertieft oder nicht zu Hause war, machte er einfach in die Hose. Die Arzthelferin maß seine Temperatur, erklärte sie für normal und ließ sie dann allein. Alan kam ungefähr zehn Minuten später. Er lächelte sie an und wandte sich dann zu Jeffy.
    »Du hast die Nacht also gut überstanden, Jeff? Kein Bauchweh mehr? Was hältst du davon, wenn du dich auf den Rücken legst und mich den ollen Bauch mal untersuchen lässt?«
    Während er die Untersuchung vornahm, plapperte er weiter, so als sei Jeffy nicht anders als jeder andere achtjährige Junge. Das war es, was Sylvia an Alan als Arzt sofort begeistert hatte – die Art, wie er mit Jeffy umging. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass die meisten Ärzte ihn zwar gründlich und rücksichtsvoll untersuchten, aber niemals mit ihm sprachen. Sie redeten mit ihr, aber nicht mit Jeffy. Na ja, er hörte nicht zu und antwortete auch nicht, warum sollte man dann mit ihm sprechen? Dieses Verhalten war ihr niemals aufgefallen, bis zu dem Tag, als sie ihn zu Alan brachte. Jeffy war hingefallen und sein Ellbogen war fast doppelt so dick wie normal angeschwollen. Sylvia war sich sicher gewesen, er sei gebrochen, und wollte mit ihm in die Praxis ihres Onkels Lou rasen, als ihr einfiel, dass der an diesem Tag nicht in der Stadt war. Aber sein ehemaliger Kompagnon war erreichbar. Sie waren einander nur kurz vorgestellt worden, als er und Lou sich noch eine Praxis geteilt hatten, und sie wusste auch nicht mehr über ihn, als dass Onkel Lou ihn damals als ziemlich gut‹ bezeichnet hatte.
    Sie wollte auf gar keinen Fall mit Jeffy in die Notfallambulanz, daher war sie einverstanden gewesen, dass Dr. Bulmer sich Jeffy ansah.
    Diese kurze Untersuchung hatte ihr die Augen geöffnet. Jeffys Autismus hatte Alan völlig kalt gelassen. Er behandelte Jeffy wie einen normalen Menschen, nicht wie eine Art tauben, stummen und blinden Holzklotz. In seiner Haltung lag Respekt, fast Ehrfurcht – das, was er hier behandelte, war ein Mensch. Das war auch nicht aufgesetzt. Sie hatte gespürt, dass dieses Verhalten für ihn ganz normal war. Und für einen Augenblick, als Alan ihn vom Tisch hob, hatte Jeffy ihn umarmt.
    Das war es dann. Seit diesem Tag gab es keinen anderen Arzt mehr für Jeffy. Nur noch Alan Bulmer.
    Ihr Onkel Lou war ein wenig verschnupft, als er hörte, dass Alan Jeffy untersucht hatte, aber das war nichts im Vergleich zu dem Donnerwetter, das sie zu hören bekam, als sie Jeffys Krankenakten in Alans neue Praxis transferieren ließ.
    Und jetzt beobachtete sie Alan, wie er wieder auf Jeffys Bauchdecke drückte und klopfte. Mit zunehmendem Alter sah er immer besser aus. Durch die grauen Einsprengsel im dichten dunklen Schläfenhaar wirkte er nicht älter, sondern

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