Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe
kommen, um zu sehen, ob er seine Gabe wieder benutzen könne. Endlich wurde es Montagmorgen, und er stand aufgeregt in den Startlöchern.
Es war acht Uhr früh. Er wollte diese Sache wissenschaftlich angehen – und alles dokumentieren, was passierte: Tag und Uhrzeit, Name, Ort, Diagnose. Er hatte sein Diktiergerät mit frischen Batterien bestückt. Er war bereit für den ersten Patienten und das erste Wunder des Tages.
Er hatte aber kein Glück.
Seine ersten drei Patienten waren ein älteres Ehepaar, beide mit stabiler Hypertonie, und eine Frau mit einer leichten, durch eine Diät kontrollierbaren Diabetes. Bei diesen Diagnosen war eine Bestätigung für eine spontane Heilung unmöglich. Er konnte ja den ersten beiden nicht sagen, sie sollten ihre Medikamente absetzen, genauso wenig, wie er der Frau raten konnte, ihre Diät in den Wind zu schießen und sich ein dickes Stück Sahnetorte zu gönnen.
Er brauchte eine Gelegenheit bei einer akuten Erkrankung oder einer Verletzung. Sie bot sich bei seinem vierten Patienten.
Der sechsjährige Chris Holland war wegen Halsschmerzen und Fieber nicht in die Schule gegangen. Alan sah in den Mund des Jungen und stellte eine weiße Absonderung auf beiden Mandeln fest: Mandelentzündung.
»Schon wieder?«, fragte Mrs Holland. »Warum nehmen wir sie nicht raus?«
Alan überflog die Patientenkarte. »Dies ist erst das dritte Mal seit dem vergangenen Jahr. Es reicht nicht, um einen Eingriff zu rechtfertigen. Aber wir können etwas versuchen.«
Er rollte sich mit seinem Stuhl hinter Chris und legte seine Fingerspitzen leicht über die geschwollenen Drüsen unterhalb des Kiefers. Er konzentrierte sich – worauf genau, wusste er nicht; aber er versuchte, an einen netten rosafarbenen gesunden Hals mit normalgroßen Mandeln zu denken; versuchte, diesen idealen Hals in Chris hinein zu wünschen.
Von Chris kam kein Aufschrei, kein Kribbeln in Alans Fingern und Armen. Nichts.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass die Mutter ihn komisch ansah. Er räusperte sich, passte die Ohrstücke seines Stethoskops an, horchte Chris’ Lungen ab und versteckte die Enttäuschung, die in ihm hochkam.
Fehlanzeige!
Warum war diese Gabe, wenn sie wirklich existierte, so verdammt unberechenbar? Was brachte sie zum Funktionieren?
Der nächste Patient war ein Notfall. Maria Springer – eine neue Patientin, dreiundzwanzig Jahre alt, die von einem Nachbarn gebracht wurde, der seit Langem Alans Patient war – sie hatte sich früh am Morgen an der rechten Hand geschnitten. Obwohl sie die Wunde eine halbe Stunde lang mit Eis gekühlt hatte, blutete sie immer noch. Denise verfrachtete sie augenblicklich in einen freien Untersuchungsraum.
Alan untersuchte Marias Hand und sah einen halbmondförmigen Schnitt von knapp drei Zentimetern Länge in ihrem Handballen unterhalb des kleinen Fingers. Ihre Hand fühlte sich kalt an. Er sah zu ihr hoch und bemerkte die Blässe in ihrem Gesicht, ihre angespannten Gesichtszüge, die zwischen die Zähne geklemmte Unterlippe.
»Tut es sehr weh, Maria?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber es hört nicht auf zu bluten!«
»Es wird gleich aufhören – sobald ich damit fertig bin.« Er spürte förmlich, wie sich ein wenig Spannung in ihr auflöste, als ihr klar wurde, dass sie nicht verbluten würde. Nun noch ein wenig Hokuspokus, um ihr Vertrauen zu gewinnen. »Und vielleicht können Sie das als Grund nehmen, um mit Ihrem Mann über eine Spülmaschine zu reden. Oder zumindest über einen Schwamm mit Griff.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, das kommt davon, wenn Sie versuchen, mit der Hand den Boden eines Glases auszuschrubben.«
Ihre Augen weiteten sich. »Woher wissen Sie das?«
Alan zwinkerte mit den Augen. »Das ist mein Geheimnis.«
Er sagte ihr nicht, dass er über die Jahre hinweg Dutzende solcher Wunden gesehen hatte, und alle entstanden aus dem gleichen Grund: etwas zu viel Kraft beim Auswaschen eines Wasserglases, sodass es platzte und man sich entweder am Zeigefinger oder am Rand der Handfläche schnitt.
Als sie sich hingelegt hatte und entspannte, kam es Alan in den Sinn, dass dies die perfekte Möglichkeit war, die Gabe zu testen. Es hatte bei einer viel größeren Fleischwunde am Samstagabend funktioniert; dieser Kleine Schnitt dürfte kein Problem sein. Er sah auf die Uhr: 9:36. Er wollte alles so genau wie möglich festhalten.
Er presste die Hautlappen ungefähr zwanzig Sekunden fest zusammen, aber er verspürte keinen Schock, kein
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