Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe
kontrollieren.« Er lachte. »Ich klinge wie ein Alkoholiker, nicht wahr?« Er wechselte plötzlich über zu einem authentischen-Brooklyn-Akzent. »›Keine Sorge, Doc. Ab und zu hebe ich mal einen, aber ich bin kein Alki, wissen Sie? Ich komme klar.‹«
Sylvia lachte. »Das ist gut. Wo haben Sie das denn aufgeschnappt?«
»Aus dem Leben. Ich bin in Brooklyn aufgewachsen. Meine Familie war die einzige weiße protestantische Familie unter all den Juden und Italienern. Wir wohnten in …« Er runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht mehr. Der Straßenname ist mir entfallen. Macht aber auch nichts. Ich glaube, der einzige Grund, warum wir da geduldet wurden, ist der, dass wir noch ärmer waren als alle anderen.«
Einen Moment saßen sie schweigend da, dann sagte er:
»Ginny und ich haben Probleme, seit Tommy tot ist. Sie hat sich verändert. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn er tot geboren oder in den ersten Tagen gestorben wäre. Aber er hielt durch.« Ein unsicheres Lächeln bildete sich um Alans Mundwinkel. »Gott, was für ein kleiner Kämpfer er war! Er wollte einfach nicht aufgeben. Er hätte nicht so lange durchhalten sollen, wie er es getan hat. Und das war das wirkliche Problem, glaube ich. Ein Priester sagte uns, es war besser, ihn eine Weile gehabt zu haben und ihn dann zu verlieren, als ihn überhaupt nicht gekannt zu haben. Ich weiß es nicht. Man kann keinen Schmerz für etwas empfinden, was man niemals gekannt hat.« Seine Hände ballten sich zu Fäusten. »Wenn Tommy für uns doch nur nicht zu einer wirklichen Person geworden wäre, einem kleinen Menschen, der deinen Finger ergreifen und lächeln konnte, sogar kichern, wenn man ihn an der richtigen Stelle kitzelte. Aber ihn zu haben, ihn zu lieben und diese drei Monate für ihn zu hoffen – achtundachtzig Tage, um genau zu sein – und ihn dann zu verlieren, zu sehen, wie das Leben aus seinem Gesicht schwindet, das Licht in seinen Augen verlöscht. Das war grausam. Ginny hat das nicht verdient. Etwas in ihrem Inneren ist mit Tommy gestorben, und seitdem ist alles anders. Sie …«
Alan brach ab, als er sich zurücklehnte. Sylvia gab nicht auf, sie wartete, dass er weitersprechen würde; sie wollte unbedingt wissen, was in seiner Ehe vor sich ging.
»Ich sollte nicht über sie reden«, sagte er schließlich. »Aber Tatsache ist, dass ich nicht mit ihr darüber reden kann … über diese Gabe, die ich habe. Und ich kann auch mit keinem Arzt darüber reden, weil man dann von mir erwarten würde, dass ich einen bestimmten Facharzt aufsuche.«
»Einen Psychiater?«
»Genau. Entschuldigen Sie also, dass ich ununterbrochen geredet habe, aber diese Sache hat sich bei mir verdammt lange angestaut.«
»Gern geschehen.«
Sein Blick brannte sich in ihre Augen. »Glauben Sie mir?«
Sylvia zögerte, verblüfft über die Direktheit der Frage. »Ich weiß nicht. Ich glaube an Sie als Mensch, aber was Sie mir erzählt haben, ist so … so …«
»Ja, ich weiß, was Sie meinen. Ich habe selber ziemlich lange gebraucht, bevor ich es glauben konnte, obwohl die Heilungen direkt vor meinen Augen eintraten. Aber jetzt, da ich es akzeptiert und gelernt habe, damit umzugehen, ist es einfach …« Er breitete seine Arme aus. »Es ist wundervoll.«
Sylvia betrachtete sein Gesicht und spürte seine glühende Begeisterung.
»Ich kann gar nicht beschreiben, was es bedeutet, wirklich in der Lage zu sein, etwas zu tun! Medizin ist meist nur ein Zeitschinden, man zögert nur das Unvermeidliche hinaus. Aber jetzt kann ich wirklich etwas bewirken!«
»Das haben Sie immer«, sagte Sylvia. »Sie sollten sich nicht kleiner machen, als Sie sind.«
»Warum nicht? Ich war wie jemand, der versucht hat, mit hinter dem Rücken gefesselten Armen den Kanal zu überqueren. Gott! Es gab so vieles, was ich hätte tun können! So viele Menschenleben …«
Seine Augen bekamen einen abwesenden Ausdruck, als ob er in seiner inneren Welt wanderte und den Weg zurück nicht recht finden könnte. Was Sylvia ganz recht war. Es machte sie wütend, dass er die Zeit, bevor er diese Gabe hatte, so herabsetzte.
»Sie hatten schon immer etwas Besonderes an sich!«, sagte sie, als seine Augen wieder in der Gegenwart ankamen. »Sie hatten Mitgefühl und Einfühlungsvermögen. Ich erinnere mich noch, als ich das zweite oder dritte Mal mit Jeffy bei Ihnen war und ich Ihnen sagte, Sie seien der einzige Arzt, der mir das Gefühl vermittelt, dass ich ihm nicht auf die Nerven gehe, wenn ich ein
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