Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
Begrüßung umarmt hatte? Oder suchte er nur nach solchen Indizien? Erwartete er einfach, dass alle ihn jetzt anders behandelten, weil er sich selbst in einem anderen Licht sah?
Er blickte Carol hinterher, die in die Küche ging, um Kaffee zu machen, dann holte er tief Luft und drehte sich zur Bibliothek um. Er konnte sich nicht ewig verstecken. Vielleicht würden die paar Fingerbreit Jack Daniels, die er sich zuvor genehmigt hatte, ihm helfen, das durchzustehen. Als er den Raum betrat, bemerkte er, wie das Gespräch zwischen Ma und Bill verstummte …
… Ma … er hatte doch gar keine richtige Mutter.
Sah sie ihn nicht merkwürdig an? Er war versucht, ihr zu sagen, dass ihm kein zweiter Kopf wachsen würde, aber das würde seine ruhige, gelassene, alles-wie-immer-Fassade ruinieren. Stattdessen setzte er ein Lächeln auf.
Er bemühte sich um einen völlig gelassenen Tonfall. »Und, was gibt’s Neues?«
8.
»Kommen Sie nicht mit?«, fragte Martin durch das offene Fenster des Wagens.
Grace schüttelte den Kopf. »Nein … ich kann nicht. Das ist meine Nichte.«
»Das mag ja sein«, erklärte Martin, »aber dies ist der Kampf des Herrn. Früher oder später müssen Sie sich erheben und sich Ihrer Verantwortung stellen.«
Die Autorität, die Bruder Robert ihm übertragen hatte, schien ihm zu Kopf gestiegen zu sein.
»Ich bin auf der Seite des Herrn«, sagte sie, »aber ich werde nicht vor dem Haus meiner Nichte demonstrieren. Das kann ich einfach nicht.«
Grace schloss die Augen, damit sie die schilderschwenkenden Auserwählten nicht sehen musste, die auf das kleine weiße Häuschen zumarschierten, das das Zuhause von ihrem Bruder Henry gewesen war, bevor er und Ellen tödlich verunglückten. Sie hatte dort zu oft mit Ellen zu Mittag und zu Abend gegessen und nachmittags Tee getrunken, und dann hatte sie mehr als ein halbes Jahrzehnt dort gelebt und versucht, ihrer geliebten verwaisten Nichte ein Heim zu bieten, die von da aus Tag für Tag zur Stony Brook Highschool pendelte. Zu viele Erinnerungen hinderten sie daran, jetzt vor dem Haus hin- und herzumarschieren und Carols Ehemann den Antichrist zu nennen, selbst wenn das wahr sein sollte.
Aber jetzt, wo sie den vertrauten Grund und Boden im hellen Licht des Tages sah, fragte sie sich, wie so etwas überhaupt sein könnte.
»Wo sind die Reporter?«, fragte Martin und blickte hektisch die Straße hoch und runter. »Ich habe die lokalen Fernsehsender angerufen, alle fünf, die großen Zeitungen und die hiesige Tageszeitung … wie heißt die noch?«
»Der Express«, sagte Grace.
»Ja, richtig. Man möchte doch annehmen, dass irgendwer ein Nachrichtenteam losschicken würde, um darüber zu berichten.«
»Es ist schließlich Sonntag«, sagte Mr Veilleur. »Sie sind ziemlich schnell gefahren. Wahrscheinlich waren Sie einfach schneller als die anderen.«
»Ja, das waren wir wohl«, sagte Martin mit offensichtlicher Genugtuung. »Aber wir können schließlich nicht ewig warten, und wahrscheinlich ist es auch besser, wenn wir bereits demonstrieren, wenn die ankommen. Sind Sie sicher, dass Sie nicht mitmachen wollen, Grace?«
»Ich kann nicht, bitte drängen Sie mich nicht weiter.«
»Was ist mit Ihnen?«, fragte Martin und öffnete die Tür auf der Seite von Mr Veilleur. »Es wird Zeit, dass Sie sich nützlich machen.«
Mr Veilleur lächelte. »Machen Sie sich nicht lächerlich.«
Martin blickte plötzlich sehr finster drein.
»Hören Sie mal zu. Entweder Sie steigen aus und marschieren mit uns in der Demonstration, oder Sie laufen jetzt zurück in die Stadt. Ich habe nicht vor, nutzlosen Ballast mit mir herumzuschleppen.«
Grace hatte gar keine Zeit, ihrem Entsetzen über Martins Grobheit Ausdruck zu verleihen. Blitzschnell schoss Mr Veilleurs Hand vor, ergriff Martins Krawatte und zerrte Kopf und Schultern des Fanatikers in den Wagen.
»So können Sie nicht mit mir reden«, sagte er mit leiser Stimme.
Grace konnte Mr Veilleurs Augen nicht sehen, Martin aber schon. Sie bemerkte, dass er noch deutlich blasser wurde, als er schon war.
»Schon gut«, sagte er hastig. »Ganz wie Sie wollen.«
Weder Grace noch Mr Veilleur sagten etwas, als sie hinter Martin herschauten, der zum Haus hastete. Die Auserwählten bildeten eine Kette auf dem Bürgersteig vor dem Haus. Martin ging zwischen ihnen hindurch zur Haustür. Er klopfte ein paar Mal, ohne Ergebnis. Schließlich versuchte er den Türknauf. Die Tür schwang auf. Grace hätte beinahe laut
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