Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
hatte überlegt, Bill anzurufen und zu fragen, ob sie ein paar Tage bei seinen Eltern bleiben könnte, aber dann wurde ihr klar, dass sie eigentlich nur eines wollte: Allein sein.
Die leere Villa um sie herum hallte verlassen.
Das ist es dann wohl, Jim, dachte sie. Du bist weg, unser Haus und unser Bett sind weg, all die alten Fotos, all deine unverkauften Romane, alles ist weg. Von dir ist nichts übrig außer diesem alten Haus, und das ist nicht viel, weil du kaum Gelegenheit hattest, hier deine Zeit zu verbringen.
Ihr traten die Tränen in die Augen. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass er nicht mehr da war, dass er nicht mehr mit einem von diesen gottverdammten Notizbüchern in den Händen die Treppe herunterpoltern würde. Aber er war nicht mehr da. Ihr Jim, ihr ein und alles war tot.
Ihre Kehle schnürte sich zu. Warum musstest du sterben, Jim? Sie hasste ihn beinahe, weil er so dumm gewesen war … einfach diese Säule hochklettern. Warum?
Wie sollte sie nur ohne ihn weitermachen? Jim hatte ihr über den Tod ihrer Eltern hinweggeholfen, als sie dachte, es ginge nicht mehr weiter, und er war seither ihr Halt, ihr Fels in der Brandung gewesen. Wer sollte ihr über seinen Tod hinweghelfen?
In Gedanken hörte sie sogar seine Stimme: Du bist jetzt auf dich allein gestellt, Carol. Enttäusche mich nicht. Lass dich meinetwegen nicht unterkriegen. Du kannst es schaffen.
Sie spürte, wie sich das Schluchzen aus ihrer Brust einen Weg bahnte. Sie hatte gedacht, sie hätte alles aus sich herausgeweint.
Sie hatte sich geirrt.
2.
»Es tut mir leid wegen Ihrem Freund, Pater Bill.«
»Danke, Nicky.«
Bill schaute auf den Jungen, der ihm gegenüber auf der anderen Seite des Schreibtischs stand, und er sah ehrliches Mitgefühl in seinen Augen. Mit leichtem Schrecken wurde ihm plötzlich klar, dass die meisten der Jungen hier im Heim nur zu gut wussten, wie es war, jemanden zu verlieren.
Es war Bills erster Tag wieder in seinem Büro, und auf seinem Schreibtisch wartete das Aufkommen von drei Tagen an Adoptionsanträgen, Gutachten und normaler Post, und einiges stand noch aus. Draußen war es regnerisch, aber warm, eher wie Mai als wie März.
»Kommst du nicht zu spät in deine Klasse?«, fragte er den Jungen.
»Ich komme schon noch pünktlich. War er ein sehr guter Freund?«
»Er war ein alter Freund und früher war er einmal mein bester Freund. Wir fingen gerade wieder an, uns neu kennenzulernen.«
Er hatte einen Kloß im Hals, als er an Jim dachte. Seit den schrecklichen Ereignissen von Sonntag hatte er die Trauer in sich eingeschlossen. Er hatte es sich nicht gestattet, eine Träne zu vergießen. Jim würde sich über ihn lustig machen, wenn er wüsste, dass Bill seinetwegen weinte.
Und was würde Jim sagen, wenn er von seinen Träumen von Carol wüsste, die jetzt, seit sie ganz allein auf der Welt war, noch erotischer waren als früher.
»Ist es wahr, was in den Zeitungen stand …?«
»Ich würde es wirklich begrüßen, im Augenblick nicht darüber zu reden, Nicky. Das ist alles noch zu frisch.«
Der Junge nickte weise, wie jemand, der weit älter war, dann begann er sein gewohnheitsmäßiges Hin- und Hertigern im Raum. Er blieb vor der Schreibmaschine stehen.
»Und«, sagte er nach kurzer Pause, »wann verlassen Sie uns?«
Die Frage ließ Bill aufschrecken. Er blickte hoch und sah den angefangenen Brief an den Superior, der noch in der Maschine steckte. Gott! Der Lehrauftrag in Baltimore. Er hatte das vollkommen vergessen.
»Wie oft habe ich dir schon verboten, meine Post zu lesen?«
»Es tut mir leid. Es stand da einfach direkt vor mir. Ich habe nur ganz kurz hingesehen.«
Bill kämpfte gegen das Schuldgefühl an, das in ihm aufstieg.
»Pass auf, Nicky. Ich weiß, wir hatten eine Abmachung …«
»Das ist schon in Ordnung, Pater«, sagte der Junge mit einem Lächeln, das herzzerreißend gezwungen wirkte. »Sie werden ein großartiger Lehrer sein. Vor allem da unten, in der Nähe von Washington. Ich weiß, wie sehr Sie all dieses politische Zeug interessiert. Machen Sie sich meinetwegen keine Gedanken. Mir gefällt es hier. Das hier ist mein Zuhause. Ich bin sowieso ein hoffnungsloser Fall.«
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht so über dich reden.«
»Wir müssen uns den Tatsachen stellen, Pater. Wenn Sie abwarten, bis ich mal adoptiert werde, sind Sie dann wahrscheinlich so altersschwach, dass Sie nur noch an Krücken gehen können. Unsere Abmachung ist hinfällig. Ich
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