Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
den vernichtenden Schlag gegen den Antichrist führen wird. Ich weiß, wer das ist.«
Langsam, noch immer mit einem Gefühl, als würde sie auf Wolken schweben, drehte Grace sich um und ging in ihr Schlafzimmer.
Dies war die Chance, für die sie all die Jahre gebetet hatte. Mit dieser einen Tat konnte sie all die Sünden, die sie in ihrer Jugend begangen hatte, wieder gut machen. Mit diesem einen Mord würden all die anderen Morde, die ihre Seele befleckten, gesühnt.
Voller Ehrfurcht vor dieser perfekten Symmetrie zog sie die unterste Schublade ihrer Kommode heraus und griff in den Hohlraum dahinter. Ihre suchenden Fingerspitzen fanden das staubige Lederkästchen, das sie dort vor so vielen Jahren versteckt hatte. Sie holte es heraus. Es war so breit und so hoch wie eine Zigarrenschachtel, aber doppelt so lang.
Die Werkzeuge zu ihrer Erlösung.
Ungeachtet der Staubschicht, die sie bedeckte, presste sie die Schachtel vor ihre Brust und blickte in den Spiegel. Sie erinnerte sich.
Sie hatte Mitte der Dreißigerjahre damit angefangen, als sie ungefähr zwanzig war. Nach ein paar Jahren war sie unter den jungen Mädchen, die in Schwierigkeiten steckten, als »Amazing Grace« bekannt, weil sie eine ausgebildete Krankenschwester war, die sie freundlich und gewissenhaft behandelte und die wusste, wie man dafür sorgte, dass es nicht zu Infektionen kam, nachdem ihre Arbeit getan war. Schließlich hatte sie jedoch die Sündigkeit ihres Tuns eingesehen, und hatte das alles hinter sich gelassen.
Aber jetzt musste sie sich fragen, ob es bereits in Gottes Plan gelegen hatte, dass sie damals zu Amazing Grace geworden war.
»Ich bin die Auserwählte«, sagte sie und strahlte Bruder Robert und Martin und Mr Veilleur an, als sie in ihr Wohnzimmer zurückkam.
»Auserwählt wozu?«, fragte Martin.
Grace öffnete das Kistchen, um ihnen die Küretten und Dilatoren zu zeigen, die sie bei so vielen Abtreibungen verwendet hatte.
»Auserwählt, um den Antichrist aufzuhalten.«
XXI
Samstag, 16. März
Manhattan
»Das kann ich nicht auf mich nehmen!« Bruder Robert schritt rastlos in Martins Wohnzimmer hin und her. Auf der anderen Seite der Fenster war die Nacht hereingebrochen. Das Holzparkett unter seinen nackten Fußsohlen war kalt, aber er ignorierte die Unbill. »Das steht völlig außer Frage. Ich kann so etwas nicht gestatten.«
»Aber Bruder Robert …«, setzte Martin an.
Der Mönch schnitt ihm das Wort ab. »Abtreibung ist eine Sünde! Es kann nicht der Wille Gottes sein, dass wir sündigen. Es ist eine Gotteslästerung, so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen.«
Schon der Gedanke, diese arme junge Frau, egal wer auch immer sie war, zu entführen, sie zu betäuben und in ihre intimsten Körperteile einzudringen, um den herauszureißen, den sie in ihrem Schoß beherbergte, egal, wer das war … es stand in solchem Gegensatz zu allem, dem er sein Leben gewidmet hatte, allem, was ihn ausmachte. Er schüttelte sich vor Abscheu bei der Vorstellung, er könne an so einer frevelhaften Tat beteiligt sein.
»Warum wurde ich dann zu den Auserwählten geführt?«
Bruder Robert hielt bei seiner ziellosen Wanderung inne und starrte die dritte Person an, die sich im Raum befand – Grace Nevins. Sie saß demütig auf einem Stuhl in der Ecke und hielt die Hände im Schoß gefaltet. Er hatte schon bei ihrer ersten Begegnung gespürt, dass sie ein verborgener Schmerz quälte, und gestern hatte er erfahren, was so schwer auf ihrer Seele lastete. Jetzt schien ihre Pein verschwunden, ersetzt durch einen inneren Frieden, der aus ihren Augen strahlte.
»Ich weiß es nicht«, erklärte Bruder Robert. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie zu uns geleitet wurden, um eine Sünde zu begehen … um uns alle in die Sünde einer Abtreibung zu verstricken.«
»Aber das ist doch sicherlich eine Ausnahmesituation«, sagte Martin. »Bei einer Abtreibung wird ein menschliches Wesen getötet. Das darf nicht sein. Aber hier geht es nicht um ein Menschenleben. Wir sprechen hier über den Antichrist, den Teufel höchstpersönlich. Durch diese Handlung wird kein Menschenleben zerstört. Zerstört wird dadurch nur die Bedrohung, die der Teufel für Christi Heilswirken an der Menschheit darstellt. Ihn zu vernichten ist keine Sünde. Das ist ein Werk im Dienst Christi.«
Das Argument war überzeugend, aber Bruder Robert fand es zu einfach, zu billig. Irgendetwas übersah er. Das war komplexer, als er es sich hatte träumen lassen. Und
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