Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
entlang der Bordsteine anschwollen.
Carol war innerhalb von Sekunden klatschnass. Sie rannte unter einen Baum, erinnerte sich dann aber daran, dass das angeblich der falscheste Ort war, an dem man in einem Gewitter Schutz suchen konnte. Vor ihr, einen halben Block entfernt, sah sie ihre alte Pfarrkirche – Die Kirche Unserer Lieben Frau Von Den Ewigen Schmerzen. Da war es bestimmt sicherer als unter diesem Baum.
Als sie zur Eingangstür rannte, begannen Hagelkörner vom Himmel zu fallen. Die meisten hatten die Größe von Murmeln, aber einige waren so groß wie Golfbälle. Sie federten vom Straßenpflaster zurück, prasselten auf ihre Arme und Schultern und erzeugten einen furchtbaren Lärm auf den Autos, die am Straßenrand geparkt waren. Sie stürzte die steinernen Stufen empor und betete im Stillen, das Kirchentor möge nicht verschlossen sein. Der Türflügel gab nach, als sie daran zog und gestattete ihr den Einlass in die kühle trockene Stille des Vestibüls.
Das Gewitter schien plötzlich ganz weit weg.
Eine Kirche. Wie lange war es her, dass sie das letzte Mal in einer Kirche gewesen war? Bei einer Hochzeit? Oder einer Taufe? Sie konnte sich nicht erinnern. Seit ihrer Jugend war sie nicht mehr sehr oft in der Kirche gewesen. Aus ihrer jetzigen Warte war ihre Abkehr von der Religion wohl eine Reaktion auf den Tod ihrer Eltern gewesen. Ihr mangelndes Interesse an der Kirche hatte damals zwar zu leichten Spannungen mit Tante Grace geführt, aber es hatte keine heftigen Szenen gegeben. Sie war nie strikt gegen Religion gewesen, so wie Jim. Es war einfach so, dass sie irgendwann keinen Sinn in all dem sonntäglichen Knien und dem Beten zu einem Gott mehr sah, der mit jedem fortschreitenden Jahr weiter und weiter entfernt und unerreichbarer schien. Aber sie erinnerte sich an Zeiten zwischen dem Unfalltod ihrer Eltern und ihrer Abkehr von der Kirche, an denen sie allein hierhergekommen war und wo es ihr Trost gegeben hatte, wenn sie einfach nur still in der Bank saß.
Sie sah sich im Vestibül um. Links von ihr war das Taufbecken und rechts führte die Treppe in den Chorraum hoch. In der siebten und achten Klasse hatte sie jeden Sonntag um neun Uhr in der Kindermesse im Chor gesungen.
Es überlief sie kalt. Ihr Haar und ihre nackten Schultern waren immer noch klatschnass und ihr durchnässtes Sommerkleid klebte an ihr wie eine schlecht sitzende zweite Haut.
Sie öffnete die Tür und trat ins Kirchenschiff. Als sie den Mittelgang hinunterschritt, illuminierte das Stakkato der Blitze vom Gewitter draußen die Buntglasfenster und erzeugte einen Stroboskopeffekt aus leuchtend buntem Licht auf den Kirchenbänken und dem Altar. Es war fast wie eines diese psychedelischen Kaleidoskope, die bei den Hippies so beliebt waren.
Der Donner erschütterte wieder und wieder das Gebäude. Sie ging ungefähr zwei Drittel des Weges zum Altar und rutschte dann in eine Kirchenbank. Sie kniete und verbarg das Gesicht in den Händen, um die Blitze nicht sehen zu müssen. Fragen drangen auch jetzt wieder auf sie ein. Wie sollte sie das alles nur alleine durchstehen? Wie sollte sie das Baby ohne Jim aufziehen?
Du bist nicht allein!
Ihr Kopf fuhr hoch. Die Worte erschreckten sie. Wer …?
Sie hatte sie gar nicht wirklich gehört. Sie waren nicht ausgesprochen worden. Sie kamen aus ihrem Kopf. Trotzdem sah sie sich nach allen Seiten um. Sie war allein. Die einzigen weiteren Gestalten, die noch da waren, waren die lebensgroßen Statuen der Jungfrau Maria in einer Mauernische neben der Predigtkanzel links vom Altar, deren Fuß den Versucher als Schlange zertrat; und rechts Jesus am Kreuz.
Für einen schrecklichen Augenblick vermeinte sie aus dem Augenwinkel zu sehen, wie sich Christus dornengekrönter Kopf regte, aber als sie genau hinsah, schien er unverändert. Nur eine Täuschung durch das flackernde Blitzgewitter.
Plötzlich bemerkte sie die Veränderung in der leeren Kirche. Die Atmosphäre hier war offen und einladend gewesen, als sie hereingekommen war, jetzt verspürte sie eine Aura wachsender Ablehnung, offener Feindseligkeit.
Und ihr war heiß. Das Frösteln durch ihr regendurchnässtes Kleid war vergangen, ersetzt durch ein ansteigendes Gefühl der Hitze. Ihre Haut war wie verbrannt, verbrüht.
Ein Geräusch wie von knackendem Holz erschreckte sie. Sie sah sich um, aber so, wie die Geräusche durch das offene Kirchenschiff hallten und sich an den Gewölbedecken brachen, schien es von überall her zu kommen. Dann
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