Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
schlüpfte hastig in seine Soutane und eilte nach unten.
Professor Calder war bereits wieder auf dem Weg nach draußen, als Bill am Treppenabsatz ankam.
»Was …?«
Der Professor machte eine abwehrende Geste und ging weiter. »Das wird nicht klappen«, sagte er über die Schulter hinweg.
»Wieso nicht? Was ist passiert?«
»Nichts. Er ist nur einfach nicht der Richtige.«
Und dann war er zur Tür hinaus und verschwunden.
Verblüfft und sprachlos starrte Bill auf den sich langsam schließenden Türflügel, dann wandte er sich Nicky zu, der an der gegenüberliegenden Wand stand und auf seine Schuhe starrte.
»Was hast du diesmal wieder angestellt?«
»Nichts.«
»Unsinn! Lass hören!«
»Ich habe ihn dabei ertappt, dass er beim Schach mogelt.«
»Ach komm, Nicky. Das kann nicht sein!«
»Aber es stimmt. Alles lief ganz wunderbar, bis wir anfingen, Schach zu spielen, und ich mit dem Turm-Gambit, dass Sie mir gezeigt haben, eine bessere Stellung hatte. Er hat mich in die Küche geschickt, damit ich mir noch eine Tasse Kakao hole, und als ich zurückkam, hatte er seinen Läufer ein Feld nach links gerückt!«
»Und du hast ihm vorgeworfen, er würde betrügen?«
»Nicht sofort. Ich habe ihm nur gesagt, dass der Läufer nicht mehr da stand, wo er gestanden hat, als ich den Raum verließ. Er wurde dann ganz hochmütig und sagte ›Ich bin sicher, dass du dich irrst, junger Mann!‹«
»Und dann?«
»Dann habe ich ihn einen Betrüger genannt.«
»Verdammt, Nicky!« Bill spürte, wie die Wut in ihm hochkochte, aber er ließ sie nicht heraus. »Ist dir jemals der Gedanke gekommen, dass du dich geirrt haben könntest?«
»Sie wissen, dass ich solche Fehler nicht mache!« Nicky traten die Tränen in die Augen.
Das reichte. Bill nahm Nickys Reisetasche und drückte sie dem Jungen in die Arme. Sein Kiefer schmerzte, als er durch die zusammengebissenen Zähne sprach.
»Zieh dir die guten Sachen aus, bring sie zurück in den Kleiderschrank, und dann gehst du in dein Zimmer und bleibst da. Lass dich vor dem Abendessen nicht mehr sehen.«
»Aber er hat gemogelt«, sagte Nicky mit zuckenden Lippen.
» Na und ? Bist du so verflucht perfekt, dass du darüber nicht hinwegsehen konntest?«
Nicky drehte sich um und rannte zum Schlafsaal.
Bill sah ihm hinterher. Dann, weil er nichts Besseres zu tun hatte, ging er in sein Büro. Er setzte sich an den Schreibtisch, hob die Unterlage an, zog den Brief vom Loyola-College hervor und starrte ihn an.
Verdammt, verdammt, verdammt.
Er fühlte sich grässlich, weil er Nicky angeschrien hatte. Wenn man dem Jungen eines zugute halten konnte, dann, dass er nicht log. Und er hatte ein hervorragendes, beinahe schon fotografisches Gedächtnis: Er konnte sich vor seinem inneren Auge ganze Buchseiten vorstellen und den Text rückwärts vorlesen. Bill wusste, wenn Nicky sich auf ein Schachspiel konzentrierte, dann hatte sich die Stellung jeder Figur in sein Gedächtnis eingebrannt.
Was bedeutete, dass Professor Calder tatsächlich betrogen hatte.
Es lief also darauf hinaus: Der Prof war ein eingebildeter Affe, dessen Ego es nicht zuließ, dass er von einem aufgeweckten zehnjährigen Kind geschlagen wurde, und Nicky war so dumm, diesem Kerl seinen kleinkarierten, erschummelten Sieg nicht zu gönnen. Und Bill hatte versprochen, er würde in St. F’s bleiben, bis Nicky adoptiert war.
Was für eine verkorkster Mist.
Trotz allem bewunderte er Nickys intellektuelle Aufrichtigkeit, mit der er den Professor bloßgestellt hatte. Vielleicht wollte er ja auch nicht von einem Mogler und Betrüger adoptiert werden, aber was soll’s, jeder macht Kompromisse im Leben. Nicky hätte auch ein Auge zudrücken können.
Schließlich erreichte seine Frustration den Siedepunkt. Mit einem wütenden Knurren knüllte er den Brief von der Loyola-Hochschule zu einem Ball zusammen, den er gegen die gegenüberliegende Wand warf.
Ich komme hier niemals heraus.
Was vielleicht nicht mal übertrieben war, wie ihm klar wurde. Wenn er diese Stelle ablehnte, war nicht abzusehen, wann und ob ihm dann noch einmal eine Lehrtätigkeit angeboten wurde.
Er hatte nur eine Möglichkeit: Er musste diesen Job annehmen.
Bill suchte auf dem Fußboden, fand den Brief und strich ihn auf der Tischplatte wieder glatt.
Er wusste, er hatte Nicky ein Versprechen gegeben, aber daran war er nicht gebunden, wenn Nicky sich nicht an seinen Teil der Abmachung hielt. Vielleicht wollte Nicky das Waisenhaus nicht verlassen. Gut, das
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