Widersacher-Zyklus 05 - Nightworld
Kupplung kommen und sie setzten sich in Bewegung. Er stellte fest, dass er ganz unten durch das Seitenfenster dann und wann einen Blick auf den Rand der Brücke erhaschen konnte. Das benutzte er als Orientierung.
Beim Vorwärtsrollen hörte er ein Geräusch, erst schwach und unbestimmt, aber es wurde stetig lauter. Es klang beinahe wie menschliche Stimmen – jubelnde Stimmen. Das war es auch. Der Klang reichte in den Wagen hinein, berührte ihn, wärmte ihn. Er benutzte ihn als Richtstrahl, wurde schneller und rollte darauf zu.
Und plötzlich – wie wenn man bei einem schweren Gewitter unter einer Unterführung hindurchfährt – waren die Viecher verschwunden. Wie weggewischt, alle miteinander. Stille im Wagen. Bis auf die Stimmen. Statt von Insekten war der Wagen jetzt von jubelnden Menschen umringt. Männer und Frauen, mittleren Alters und älter, mit verhärmten Bauerngesichtern, grob gewebter Kleidung, Schaflederwesten und Wollmützen. Sie zogen die Tür des Rovers auf und halfen ihm heraus, schüttelten ihm die Hand und klopften ihm fortwährend auf die Schultern und den Rücken. Bill erwiderte das Lächeln und den Händedruck, dann sah er zur Brücke zurück. Die Viecher schwärmten in der Luft vor dem Torbogen, aber nicht eines wagte sich hindurch.
Er wandte sich wieder den Leuten zu und sah, dass im Hintergrund Kinder und Ziegen herumliefen. Und dahinter, auf den Steinblöcken der Wände – Kreuze. Hunderte von Kreuzen. Tausende von Kreuzen.
Was war das für ein Ort? Und warum hatte er das Gefühl, als sei er irgendwie nach langer Abwesenheit nach Hause gekommen?
Bei Anbruch des Tages flogen die Viecher wieder in die Dunkelheit zurück, in der sie lebten, und die Bauern verließen mit ihren Kindern und ihren Tieren das Kastell. Sie überquerten die Brücke zu den Überresten der wirklichen Welt und Nick und Bill und der Wagen blieben zurück bei der Asche des nächtlichen Feuers.
Bill wusste, er und Nick müssten in die Schlucht hinunter, um nach den Trümmerstücken des geborstenen Schwertes zu suchen, aber er konnte diesen Ort nicht verlassen. Noch nicht. Das Kastell hüllte ihn ein, umschlang ihn mit seinen Wänden und verlangte seine Aufmerksamkeit.
Die Kreuze … Wie könnte er zwei Drittel seines Lebens als Priester verbringen und sich nicht an einem Ort heimisch fühlen, der so vollkommen überladen mit Kreuzen war? Nicht langweilige, eintönige, standardisierte lateinische Kreuze, sondern merkwürdige bauchige Kreuze mit Längsstreben aus Messing und hoch, fast an der Spitze angesetzten Querstreben aus Nickel. Wie ein Tau-Kreuz oder das, was man früher St.-Antonius-Kreuz genannt hatte.
Nicht alle Dorfbewohner waren gegangen. Ein uralter, weißhaariger Mann – keinen Tag jünger als achtzig – namens Alexandru war zurückgeblieben. Er sprach Englisch so gut wie Bill Rumänisch, aber sie konnten sich einigermaßen auf Deutsch verständigen. Bill hatte die Sprache in der Schule und später im Studium gelernt und hatte sie gut genug beherrscht, um den ›Faust‹ im Original zu lesen. Er stellte fest, dass genug hängen geblieben war, um mit Alexandru zu kommunizieren.
Der alte Mann führte ihn im Gebäude herum. Sein Vater, der auch Alexandru geheißen hatte, war der letzte Hausmeister des Kastells gewesen, in den Jahren vor dem zweiten Weltkrieg. Jetzt hätte es auch einen Hausmeister gebrauchen können – eigentlich sogar einen ganzen Trupp. Schnee, Wind, Regen, Trockenheit und Kälte hatten ihre Spuren an dem Kastell hinterlassen. Die oberen Stockwerke des Turms waren eingestürzt, sodass der nicht mehr war als ein mit Trümmern gefüllter Steinzylinder, trotzdem verströmte er noch eine gewisse Erhabenheit.
»Das war früher ein schlechter Ort«, sagte Alexandru, »jetzt ist es ein guter Ort. Die kleinen Monster kommen nicht hierher. Sie fliegen überall dort draußen, aber nie hier drinnen.«
Er ging zum Tor und deutete nach links. Bills Blick folgte dem ausgestreckten Arm zu einer schwarzen, runden Fläche von fast hundert Metern Durchmesser, die den grünen Talboden des Passes verschandelte.
Ein Loch.
»Da kommen sie her, die kleinen Monster.«
»Ich weiß. Diese Löcher sind überall.«
Dann führte Alexandru ihn in den Keller des Kastells und zeigte ihm dort die Öffnung im steinernen Fußboden. Er erzählte, wie die Deutschen im Frühjahr 1941 im Kastell kampiert und dabei den Ort fast vernichtet hatten, wie etwas unsagbar Böses wieder erwacht war und die Soldaten
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