Widersacher-Zyklus 05 - Nightworld
deine Freunde. Ich biete dir und einigen von ihnen einen Zufluchtsort, einen Unterschlupf, eine Chance, die endlose Nacht zu überleben.«
»Ich traue dir nicht.«
Wieder dieses Lächeln, dieses Mal schuldbewusst. »Ich würde mir auch nicht trauen. Aber hör mich an. Du hast nichts zu verlieren, nur weil du dir meinen Vorschlag anhörst.«
Carol erinnerte sich an das, was Bill ihr über eine Frau namens Lisl erzählt hatte, die ihre Seele und ihr Leben verloren hatte, weil sie Rasalom zugehört hatte. Aber was, außer ihrer geistigen Gesundheit und ihrer Würde, hatte Carol denn noch zu verlieren? Wenn kein Wunder geschah, würde es morgen zum letzten Mal Tageslicht geben. Ab Freitag wäre sie in dem gleichen löchrigen Rettungsboot wie der Rest der Menschheit.
»Was meinst du damit, ›einen Unterschlupf‹? Und wie viele meiner ›Freunde‹ kann ich dahin mitnehmen?«
»Eine angemessene Anzahl.«
»Gehört Glaeken dazu?«
Das Gesicht rotierte von einer Seite zur anderen und zurück, die Entsprechung eines Kopfschüttelns.
»Nein, nicht Glaeken. Jeder andere, aber nicht Glaeken. Ich habe zu lange darauf gewartet, meine Rechnung mit ihm zu begleichen.«
Carol wusste nicht, was sie davon halten, was sie tun sollte. Wenn Rasalom sich bereit erklärt hätte, Glaeken zu verschonen, hätte sie gewusst, dass er log. Keine Rivalität, kein Zwist in der menschlichen Geschichte ging so lange zurück und war so bitter und so grundsätzlich wie zwischen den beiden. Aber er hatte Glaeken ausgeschlossen. Was bedeutete das? Konnte sein Angebot echt sein? Wenn sie Bill und einige der anderen retten konnte …
»Komm nach unten und wir reden darüber.«
»Nach unten? Oh nein. Ich verlasse das Gebäude nicht.«
»Das sollst du auch nicht. Ich bin eine Etage tiefer. In deiner Wohnung.«
»Wie … wie bist du hereingekommen?«
»Ach komm schon, meine liebe Mutter. Ich kann alles, was ich will. Alles. Komm und besuch mich. Wir reden dann miteinander. Ich werde da sein, bis es dunkel wird. Danach muss ich mich um andere Dinge kümmern.«
Das Gesicht verblasste, wurde durchsichtig und verschwand dann. Als sei es nie da gewesen.
Carol musste sich an dem Tisch abstützen. Erwarte das Unerwartete. War das nicht das, was Glaeken ihr gesagt hatte? Das war leicht gesagt, aber Rasaloms Gesicht – in der Luft schwebend und so beiläufig mit ihr redend, als seien sie sich zufällig im Supermarkt über den Weg gelaufen …
Die Leichtigkeit, mit der er ins Gebäude gekommen war, war schon schlimm genug, aber nicht zu wissen, was sie da in ihrer Wohnung erwartete, machte sie zu einem Nervenbündel.
Sollte sie gehen? Das war die Frage. Und worum ging es hier eigentlich? Erwartete er, dass sie mit ihm schachern würde? Darum feilschen, wer überleben durfte? Die Verantwortung lähmte sie.
Vielleicht sollte sie ihn nach Hank fragen – wo er war, ob er noch war. Sie hätte daran denken sollen, als Rasalom noch hier war.
Sie musste es riskieren. Wenn sie auch nur ein paar Menschen retten konnte …
Sie hätte einiges darum gegeben, nicht allein gehen zu müssen. Sie wusste, ihr blieb nichts anderes übrig, aber es gefiel ihr nicht. Sie hatte jedoch auch nicht viel Zeit. Wenn sie doch nur irgendeine Waffe hätte. Aber womit ließ sich etwas gegen jemanden ausrichten, der den Lauf der Sonne beeinflussen und auch sonst tun konnte, was ihm gefiel?
Als Carol die Scherben des Essgeschirrs vom Fußboden aufsammelte, fiel ihr der Messerblock neben der Spüle ins Auge. Sie zog das Tranchiermesser mit der breiten Klinge heraus und verbarg es in den Falten der alten Strickjacke, die sie sich von Glaeken geliehen hatte. Eine lächerliche Waffe, wenn man sich klarmachte, wem sie da entgegentreten wollte. Aber das Gewicht des Messers in der Hand beruhigte sie wenigstens etwas.
Sie sah nach Magda und fand sie tief schlafend vor. Carol war der Meinung, sie könne sie schon ein paar Minuten alleinlassen. Glaeken würde bald zurück sein und Rasalom hatte gesagt, er würde nur bis Einbruch der Dunkelheit warten.
Sie eilte nach unten.
Ihre Wohnung kam ihr leer vor. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, aber da die Fenster nach Norden hinausgingen, war es trotzdem dämmrig.
War er hier? Wie sollte sie nach ihm rufen? Jimmy? Rasalom? Sicherlich nicht Sohn.
»Hallo?«, rief sie und beschloss, es unbestimmt zu lassen. »Bist du da?«
Sie schritt durch das Wohnzimmer in den Korridor. Warum antwortete er nicht? War das eine Art Scherz?
Plötzlich
Weitere Kostenlose Bücher