Widersacher-Zyklus 05 - Nightworld
in sich beherbergt hatte. Nachdem er durch ihr Wirken zu einem Komapatienten geworden war, hatte die Gabe – die elementare Macht, die Entität, was es auch war – ihn verlassen. Aber sie musste eine Art Rückstand zurückgelassen haben. Ob es etwas war, das an seinem Bauchfell haftete, seine Hirnhaut befallen hatte oder sich durch seine Neuralbahnen bewegte, konnte er nicht sagen. Er wusste nur, dass er sich zu dem alten Mann hingezogen fühlte, dass er ihm vertraute. Er erinnerte sich immer noch an die Sympathiewelle, die bei ihrer ersten Begegnung über ihn hinweggebrandet war.
Wenn es mir schon so geht, wie muss sich dann Jeffy erst fühlen?
Denn Alan hatte keinen Zweifel daran, dass das Dat-Tay-Vao sich Jeffy zum neuen Wirt erwählt hatte.
Er sah, wie der Priester, Pater Ryan, aus dem rückwärtigen Teil der Wohnung zurückkam. Mr. Veilleur folgte ihm und trocknete sich im Gehen die Hände an einem Handtuch. Bei seinem Anblick fühlte Alan wieder diese Wärme, die in ihm aufloderte und sich durch seinen Körper und seine Gliedmaßen ausbreitete.
Und Jeffy … Jeffy war nicht zu halten. Er rannte zu dem alten Mann und umklammerte dessen Beine in inniger Umarmung. Veilleur blieb stehen, lächelte auf ihn herunter und strich ihm über das Haar.
»Hallo Jeffy. Es freut mich, dich wiederzusehen.«
Der Junge sagte nichts, sondern sah Veilleur einfach nur mit strahlenden Augen an.
Alan sah zum Sofa hinüber, wo Sylvia jetzt allein stocksteif dasaß und auf ihrer Unterlippe kaute, während sie das beobachtete. In ihren Augen blitzte die Kränkung – und die Wut. Alan wusste von der Wut, die sich wie ein lebendes Tier in Sylvia verbarg. Das Tier war in den letzten Monaten ruhig gewesen, aber er erinnerte sich lebhaft daran, wie es früher oft die Zähne gebleckt und nach allem geschnappt hatte, was sich nicht vorsah. Er spürte, dass es jetzt wieder aufwachte und sich in ihr regte.
Er fühlte mit ihr. Sie hatte Jeffy bei sich aufgenommen, als er im Alter von drei Jahren von seinen unbekannten Eltern ausgesetzt worden war, die mit seinem Autismus wohl überfordert gewesen waren. Sie hatte alles mit ihm versucht; Psychotherapie, Physiotherapie, Diätpläne; und war mit ihrem Herzen und ihrem Verstand gegen die unüberwindbaren Mauern seines Autismus angestürmt, ohne je daran zu denken, aufzugeben. Und dann das Wunder: Das Dat-Tay-Vao durchbrach seinen autistischen Panzer und befreite das darin eingeschlossene Kind. Sylvia hatte schließlich doch den kleinen Jungen, den sie immer gewollt hatte.
Aber jetzt hatte dieser kleine Junge nur noch Augen für den geheimnisvollen Fremden, der vor zwei Tagen an ihrer Haustür aufgetaucht war.
Alan fühlte ihren Schmerz, als sei es sein eigener. Er wollte zu ihr gehen und sie in die Arme nehmen, um ihr zu zeigen, dass er sie verstand und dass er bei ihr war, aber er konnte sie mit der Hand nicht erreichen und er kam mit dem Rollstuhl nicht durch die Lücke am Tisch vorbei zu ihr und diese verdammten Beine trugen ihn nicht einmal die zwei oder drei Meter bis dorthin.
Seine Beine. Sie machten ihn manchmal richtig wütend. Ja, sie wurden kräftiger – langsam, allmählich war er jetzt so weit, dass er mit Hilfe ein paar Sekunden lang stehen konnte. Aber das half ihm in diesem Moment nicht, wo Sylvia ihn brauchte. Er musste hier sitzen, gefangen in diesem unpraktischen Ding auf Rädern, und zusehen, wie die Frau, die er liebte, litt. In Zeiten wie diesen …
Eine schroffe Stimme durchbrach seine Gedanken.
»Du da!«
Alan verdrehte sich in seinem Stuhl auf der Suche nach dem Ursprung der Stimme. Er sah einen hochgewachsenen Mann mit hängenden Schultern und einem zerzausten schwarzen Haarschopf über einem missgebildeten Schädel, der in dem Gang stand, der zur Küche führte. Sein Kopf war in unablässiger Bewegung, zuckte vor und zurück, drehte sich nach oben und unten, aber seine irren Augen waren stockstarr auf Mr. Veilleur gerichtet.
Plötzliche Stille im ganzen Raum. Sogar Jeffy war ruhig. Das Zimmer war zu einem Standbild geworden.
»Er hasst dich!«
Pater Ryan stand plötzlich hinter ihm und nahm sanft seinen Arm. »Es ist schon gut, Nick. Komm mit mir zurück in …«
»Nein.« Der Mann riss seinen Arm aus dem Griff des Priesters und deutete mit zitterndem Finger auf Veilleur. »Er hasst dich ganz furchtbar! Er will, dass du dich quälst!« Er deutete auf seinen Kopf. »Hier!« Dann auf sein Herz. »Und hier! Und dann wird er dafür sorgen, dass du die
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