Widerspruch zwecklos oder Wie man eine polnische Mutter ueberlebt
stürmen Pan Bogusław und ich durch die großen Glastüren ins Freie und wagen es nicht, uns umzudrehen.
16
Irgendwann nach Mitternacht wache ich auf, und egal wie oft ich mich drehe und wende, es gelingt mir nicht, wieder einzuschlafen. Die Decke ist erstickend schwer und heiß, die feuchte Matratze schlägt Wellen, und die Luft in meinem Zimmer scheint vollkommen stillzustehen. Alles, was man hört, ist das unmelodische Gezirpe der Grillen.
Hellwach gehen mir immer wieder die Ereignisse des Tages durch den Kopf. Bin ich mit meiner Standpauke zu weit gegangen? Nein, Ola Olsson hatte sich jede Sekunde redlich verdient. Es war seine Schuld, dass er mich mit Celestyna verwechselt hat, wegen ihm bin ich von der Polizei verhaftet worden. Hätte ich seine Entschuldigung trotzdem akzeptieren sollen? Ganz bestimmt nicht. Oder vielleicht doch? NEIN! Ich war schließlich kurz davor, in der Jugenderziehungsanstalt zu landen.
Aber vielleicht sind wir jetzt ja quitt?
Ich sehe wieder vor mir, wie Ola Olsson den Korb genommen hat und dageblieben ist, um die Strafe für einen versuchten Ladendiebstahl auf sich zu nehmen, damit Pan Bogusław und ich uns aus dem Staub machen konnten. Ich spule die Zeit noch weiter zurück und erinnere mich, wie freudig überrascht er gewirkt hat, als wir uns erst in Vadstena und dann auf dem Marktplatz in Ystad getroffen haben. Wieinteressiert er mich alles Mögliche gefragt hat, bevor Mutter kam und mich wegzerrte, weil man Männern, die Pferde mögen, angeblich nicht trauen kann.
Soll ich ihm trotz allem verzeihen? Warum muss das Leben nur so kompliziert sein?
Irgendwann halte ich es im Bett nicht mehr aus. Ich stehe auf und öffne das Fenster. Das Grillengezirpe setzt für ein paar Sekunden aus. Die Luft ist draußen etwas kühler, und ich meine, zwei Fledermäuse fliegen zu sehen. Ich muss etwas unternehmen.
Ich gehe leise die Treppe hinunter und finde tatsächlich das Telefonbuch. Zurück in meinem Zimmer schlage ich die Olssons in Ystad nach. Wie sich herausstellt, gibt es davon über drei Seiten. Ich nehme einen Stift und streiche alle durch, die nicht in Ingelstorp wohnen, da sind es zum Glück nur noch zwei. Ich hole auch das Telefon in mein Zimmer und wähle die erste Nummer. Ich muss es zweimal versuchen, bevor jemand abnimmt.
»Hallo?«, sagte eine belegte Frauenstimme.
»Hallo, ist Ola da?«
Es folgt eine kurze Stille, in der sogar die Grillen innehalten. Dann legt die Frau den Hörer ab, und ich höre sich schlurfend entfernende Schritte. Nach mehreren Minuten, in denen ich mich frage, ob Frau Olsson sich vielleicht wieder hingelegt hat, höre ich näher kommende Schritte.
»Ola.«
Mein Herz klopft bis zum Hals, aber aus anderen Gründen als am Nachmittag bei Åhlens . Die Hand um den Hörer wird auch schon schwitzig.
»Hallo, hier ist Alicja.«
Stille.
»Hallo«, sagt Ola Olsson.
Nachdem ich bisher nur daran gedacht habe, dass ich Ola schnellstmöglich erreichen muss, muss ich jetzt improvisieren.
»Ich wollte dich fragen, ob du Lust hast, mich zu treffen?«, sage ich und versuche, dabei noch eine Spur leichter zu klingen als ein Schmetterling bei Rückenwind.
»Jetzt?«
»Nein, morgen. Bei Ales Stenar ? So um zwölf?«
Stille. Dann:
»Okay.«
Mein Herz macht einen fröhlichen Sprung.
»Dann sehen wir uns also. Bis …«
Aber Ola Olsson hat schon aufgelegt. Aus dem Hörer kommt nur noch ein eintöniges Tuten.
Ich schau auf die Uhr, wie lange es bis zwölf noch ist. Die Uhr zeigt kurz nach eins, macht zehneinhalb Stunden, die ich mir vertreiben muss, bis es Zeit ist, sich aufs Fahrrad zu schwingen und nach Kåseberga aufzubrechen. Zum Glück muss dringend der Rasen gemäht werden, und der Abwasch vom Abendessen ist auch noch nicht gemacht. Nägel lackieren und den Kleiderschrank durchforsten, um zu sehen, was ich überhaupt anziehen soll, wären weitere Alternativen. Außerdem hat Mutter mich gebeten, das Gartentor zu streichen, und dafür genau den richtigen Zeitpunkt erwischt.
Dann merke ich zu meiner Erleichterung, wie mein Körper schwerer wird und es mich plötzlich wieder zu meinem Bett hinzieht. Ein paar Minuten später bin ich eingeschlafen und träume von Ola Olsson, der auf einem weißen Pferd diesteile Felsküste am Meer entlanggeritten kommt. Für alle, die noch nicht da waren: Ales Stenar ist ein Steinmonument in der Nähe des kleinen Fischerdorfs Kåseberga. Es besteht aus um die sechzig großen Steinblöcken, die so in der Erde stecken, dass
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