Wie angelt man sich einen Earl
„Du solltest sie nutzen.“
„Reflektieren und nachdenken, ja?“ Angel lachte spöttisch. „Wenn du mich besser kennenlernst, wirst du feststellen, dass ich wie ein offenes Buch bin, geschrieben in kurzen, leicht zu lesenden Sätzen.“
„Aber ich nicht.“
Wäre er jemand anders gewesen, hätte das als humorvolle Entgegnung durchgehen können. So hörte es sich wie eine Warnung an. In der entstehenden Pause versuchte Angel sich vorzustellen, wo er gerade war. Wie mochte der Raum aussehen, in dem er stand oder saß und ein bizarres Telefonat mit einer Frau führte, die er kaum kannte? Ob er den spontanen Antrag inzwischen bereute?
„Möglicherweise wirst du deine Entscheidung ein Leben lang bereuen, Angel“, sprach Rafe aus, was sie ihm gerade unterstellt hatte.
„Schnell gefreit, bitter bereut etcetera pp.“, gab sie flapsig zurück. „Aber wenn es dich beruhigt, verspreche ich, sehr gründlich und ausgiebig darüber nachzudenken, wie ich mir mein Leben mit deinem Geld verschönern kann.“
„Tu das“, erwiderte er in seiner ernsten, unbeeindruckten Art. „Ich werde dich am Montagmorgen abholen lassen. Dann können wir alle Einzelheiten des Arrangements zusammen mit meinen Anwälten erörtern.“
„Und wenn ich vorher mit dir sprechen will?“ Beim Gedanken, er könnte jeden Moment einfach auflegen, fühlte sie Panik in sich aufsteigen. Heute war Dienstag, und die Zeit bis zum nächsten Montag erschien ihr unendlich lang.
„Offenbar hast Du eine bemerkenswerte Routine darin, endlos lange Sprachmails ohne zu stocken auf Band zu sprechen“, erinnerte Rafe sie mit seidenweicher Stimme. „Ich denke, du wirst keine Schwierigkeiten haben, mir noch weitere zu hinterlassen, sollte es unbedingt nötig sein.“
Noch lange, nachdem er aufgelegt hatte, stand Angel wie ein gescholtenes Kind vorm Fenster ihres winzigen Apartments und starrte benommen auf die schmutzige Straße. Ihr Herzschlag war hart und viel zu schnell. Hatte sie es mit ihrem Traum vom rettenden Märchenprinzen übertrieben, indem sie versuchte, ihn in die Tat umzusetzen? Entschlossen, dreist und absolut schamlos? War es vielleicht eine Art Überreaktion auf die Nachricht gewesen, dass ihre Stiefschwester überraschend zur leibhaftigen Cinderella geworden war und mit ihrem Prinz Charming zukünftig in einem zauberhaften Inselkönigreich leben würde?
Zu Allegra mochte diese geschönte Disney-Version passen, aber zu ihr? Dann schon eher eines der gefährlicheren, düsteren Märchen der Gebrüder Grimm, dachte Angel voll bitterer Selbstironie. Und als der hässlichen Stiefschwester würde ihr der Schuh natürlich auch nicht passen, sondern höchstens voller Blut sein.
„Was, zur Hölle, habe ich mir eigentlich dabei gedacht?“
Obwohl es spät in der Nacht war, hatte Rafe noch kein Auge zugetan, sondern stand mit düsterer Miene vor seinem riesigen Bett und starrte auf die Fotos, die dort ausgebreitet lagen. Die Bilder zeigten ausnahmslos Angel Tilson während ihrer sporadischen Karriere als Model. In Hochglanz, in brillanten Farben oder künstlerischem Schwarz-Weiß, einige stilvoll und zurückhaltend, andere mit herausfordernd geschürztem Mund, geheimnisvollem Blick und lockenden Kurven.
Die Fotostrecke hatte Alistair zusammengestellt, und beim Überreichen des Ordners hatte er maliziös „Ihre zukünftige Countess “ gemurmelt.
Es hätte ihm nicht gefallen dürfen, Angels zukünftigen Titel zu hören, zumal Alistair ihn eher missbilligend ausgesprochen hatte. Und er dürfte nicht dieses wilde Verlangen beim Betrachten der Bilder empfinden, doch verhindern konnte er es auch nicht. Sie war so unglaublich schön und reizvoll. Aber was besagte das schon? Wusste er nicht besser als jeder andere, dass äußere Schönheit nicht zählte? Viel zu früh in seinem Leben hatte er es lernen müssen.
Seine Narben waren nur ein Beispiel für diese grausame Wahrheit, doch sie verblassten wenigstens mit der Zeit – was die inneren Verletzungen und Abgründe nicht taten. Daran erinnerten ihn die Geister der Vergangenheit unaufhörlich – seine Armeekameraden, seine gesamte Familie. Keinen von ihnen würde er je vergessen. Er trug sie als abgrundtiefe schwarze Löcher an der Stelle, wo sein Herz hätte sitzen müssen. Reue und lastende Schuldgefühle waren Rafes ständige Begleiter, die ihn nicht an ein normales Leben glauben ließen.
Er wandte sich ab, trat ans Fenster und starrte auf das nächtliche London, eine Stadt, die er zutiefst
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