Wie Blueten Am Fluss
wieder einmal durchgesetzt hatte. Jacob
Potts hatte sie stets über die heißblütigen Mätzchen einer gewissen irischen Schlampe auf dem
laufenden gehalten, die ihr und ihrem Mann die Leviten gelesen hatte, als wären sie nichts als
ungezogene Kinder.
Der Anlaß für Shemaines Tadel war die Auspeitschung Annie Carvers gewesen, die kurz nach ihrer
Abfahrt von England stattgefunden hatte. Es war das mindeste, was diese graue Maus verdient hatte,
nachdem sie sich wegen des Verlustes ihres Babys das Leben hatte nehmen wollen. Aber ihr Vergehen
war nichts im Vergleich zu dem, was Shemaine O'Hearn getan hatte. Was für eine dreiste
Unverschämtheit, sich vor der Mannschaft und den anderen Sträflingen darüber zu ereifern, wie sie
dieses Gassenweib behandelt hatten. Nach dieser Begebenheit hatte Gertrude aus tiefstem Herzen den
Augenblick herbeigesehnt, da sie den leblosen Körper des Mädchens den Tiefen des Meeres
anheimgeben konnten - und um das zu erreichen, hatte sie zu den grausamsten Mitteln gegriffen. Aber
so sehr sie auch stritt und zankte, nichts konnte Everette ins Wanken bringen, nichts ihn dazu
bewegen, eine härtere Maßnahme gegen die Irin zu ergreifen, als sie vier Tage allein und mit
eingeschränkten Rationen ins Kabelgatt zu sperren. Obwohl Shemaines beißende Kritik an jenem Tag
auch ihm gegolten hatte, war ein bloßes Achselzucken seine einzige Reaktion darauf gewesen. Es sei
ohnehin nichts von alledem sein Werk, hatte er gesagt, und die Schuld träfe einzig und allein
diejenige, die alles ins Rollen gebracht hatte, indem sie die Order gab, Annie ihr Baby wegzunehmen
und zu verkaufen.
Gertrude hielt sich mit einer Hand an der Reling fest und blickte auf die Frau hinunter, die sie zweimal zu einem einsamen Aufenthalt im Kabelgatt verurteilt hatte. Jetzt trug sie ein ausgefranstes, schmutziges Taschentuch über ihren feuerroten Haaren, aber so unzureichend die Kopfbedeckung
auch war, ließ sie keinen Zweifel an der gewinnenden Schönheit des ovalen Gesichts und der großen,
smaragdenen Augen, die sich an den Augenwinkeln unter anmutig geschwungenen Brauen leicht nach
oben zogen. Gertrude, die in der zerbrechlichen Schönheit und der gertenschlanken Gestalt Shemaines
etwas von einer Wassernixe oder gar einer Feenkönigin zu erblicken vermeinte, vermochte sich nicht
länger zurückzuhalten und ließ ihrer zänkischen Natur die Zügel schießen.
»Nein, seht nur, wer aus den schmutzigen Tiefen wieder ans Tageslicht gekrochen ist«, geiferte sie,
und der Blick der jüngeren Frau schoß sofort in die Höhe. »Solange, wie du da unten warst, müssen dir
doch Schwimmhäute zwischen den Zehen gewachsen sein! Und wie drollig du wieder aussiehst! Du
hast, wie ich feststelle, einige Verschönerungen vorgenommen. Aber weißt du das denn nicht,
Shemaine? Eine rothaarige Hexe kann sich schwer verstecken.«
Wenn hier irgend jemand eine Hexe ist, höhnte Shemaine im Geiste, dann bestimmt diese gemästete
Gans, die mit ihrer boshaften, rachsüchtigen Art den Gefangenen das Leben schwergemacht hatte.
Shemaine riß sich das Taschentuch vom Kopf, ließ alle Vorsicht fahren und ihr leuchtendes Haar im
Wind fliegen. Es war eine schweigende Herausforderung an die ältere Frau, deren Gesichtszüge nun
von mörderischem Haß verzerrt wurden.
»Du bist eine Hexe, eine böse Hexe, Shemaine O'Hearn«, zischte Gertrude durch zusammengebissene
Zähne. »Der Narr, der dich kauft, tut mir jetzt schon leid!«
Ganz plötzlich fuhr eine Windböe über das Deck, die weit heftiger war als die vorherigen, und riß mit
ihrer frischen Kühle Shemaine aus dem Dunkel ihrer Seelenqualen heraus. Mit stolz erhobenen Kopf
sah sie Gertrude in die von brennendem Zorn erfüllten Augen. Mit einem Mal wurde ihr klar, daß es
vieles gab, wofür sie dankbar sein mußte, denn sie hatte bewiesen, daß sie unter den unerträglichsten
Bedingungen überleben konnte, Bedingungen, von denen viele von dieser Frau absichtlich
herbeigeführt worden waren. Aber trotz aller Mißhandlungen, trotz der gehässigen Schimpfworte, die
es auf sie herabgeregnet hatte, wußte Shemaine ohne den Schatten eines Zweifels, daß sie immer noch
herrlich, prickelnd lebendig war! Und diese Leistung war wahrlich etwas, wofür sie dankbar sein
mußte!
»Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag, Mrs. Fitch«, rief sie und brachte es fertig, ihren
Worten trotz ihrer tiefen Abneigung gegen diesen Teufel von einer Frau einen fröhlichen
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