Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
spürte Jude einen brennenden Schmerz in der Brust. Dieser Schmerz war bislang immer die Barriere gewesen, vor der sie zurückgewichen war. Aber jetzt ging sie hindurch.
»Du hast recht«, sagte sie sanft. »Du hättest in jener Nacht nichts trinken dürfen, aber Lexi hätte auch nicht fahren dürfen, und ich hätte euch nicht gehen lassen dürfen. Ich wusste, dass dort getrunken werden würde. Was hatte ich mir bloß gedacht? Dass man angetrunkenen Achtzehnjährigen zutrauen kann, kluge Entscheidungen zu treffen? Warum ging ich davon aus, ich könnte nicht verhindern, dass ihr trinkt? Und … Mia hätte sich anschnallen sollen. Die Schuld liegt also bei allen Seiten.«
»Es ist meine Schuld«, entgegnete er, und obwohl Jude das schon mal von ihm gehört hatte, spürte sie zum ersten Mal, wie sehr ihn das belastete. Sie schämte sich, so in ihrer Trauer gefangen gewesen zu sein, dass sie ihn die Last allein hatte tragen lassen.
Jetzt ging sie zu ihm, nahm seine Hand und half ihm auf. »Wir alle tragen an dieser Last, Zach. Wir tragen sie schon so lange, dass unser Rücken ganz krumm geworden ist. Jetzt müssen wir uns wieder aufrichten. Wir müssen uns selbst verzeihen.«
»Wie?«, fragte er nur. In seinen grünen Augen sah sie auch Mia. Das hatte sie in ihrer Trauer ebenfalls vergessen: Ihre Kinder waren Zwillinge, und Mia würde für immer in Zach weiterleben. Außerdem gab es jetzt noch Grace.
Sie legte ihm eine Hand auf die Wange und sah die blasse Narbe an seinem Kieferknochen. »Sie ist hier … in dir«, sagte sie sanft. »Wie konnte ich das vergessen?«
S ECHSUNDZWANZIG
»Komm schon«, sagt Lexi-Mommy und streckt die Hand aus. »Du willst doch auch bei mir wohnen, oder nicht?«
Da wird ihre Hand schwarz, und lange, gelbe Krallen wachsen ihr, und Grace schreit …
»Ich bin hier, Prinzessin.«
Sie hörte Daddys Stimme und warf die Arme um ihn. Er roch wie immer, und der Alptraum wich zurück, bis sie merkte, dass sie in ihrem eigenen Bett war, in ihrem eigenen Zimmer. Genau da, wo sie hingehörte. Hier gab es keine wilden Kerle.
Ihr Dad hielt sie fest im Arm und strich ihr übers Haar. »Alles in Ordnung?«
Sie kam sich vor wie ein Baby. »Tut mir leid, Daddy«, murmelte sie.
»Jeder hat manchmal schlimme Träume.«
Das wusste sie, denn als sie noch klein war, hatte sie ihn oft im Schlaf schreien hören. Dann war sie aufgestanden und zu ihm ins Bett geklettert. Zwar war er nie aufgewacht, aber er schrie auch nicht mehr, wenn sie bei ihm war. Am nächsten Morgen hatte er sie dann müde angelächelt und gesagt, sie sei doch schon ein großes Mädchen und müsse jetzt endlich lernen, in ihrem eigenen Bett zu schlafen.
»Zwing mich nicht wegzugehen, Daddy. Ich lüge auch nicht mehr. Ich verspreche es. Und ich werde Jacob nicht mehr hauen, nie mehr. Ich werde ganz brav sein.«
»Ach, Prinzessin«, sagte er seufzend. »Ich hätte wissen müssen, dass deine Mom wieder zurückkommt. Ich hätte uns beide darauf vorbereiten müssen. Aber … ich wollte einfach nicht an sie denken.«
»Weil sie böse ist?«
»Nein«, versicherte Daddy, aber es machte ihr Angst, weil er so traurig klang. »Ganz im Gegenteil.«
»Vielleicht wurde sie böse, als sie Agentin wurde.«
»Sie ist keine Agentin, Prinzessin.«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es einfach.«
Grace biss sich nervös auf die Unterlippe. »Wie ist sie denn?«
Daddy schüttelte den Kopf. Eine ganze Weile schwieg er. Grace wollte ihn gerade etwas anderes fragen, da sagte er: »Ich hab deine Mom auf der Highschool kennengelernt.« Seine Stimme klang komisch, so als hätte er einen Kloß im Hals. »Ich hätte sie schon am ersten Tag für mich erobern wollen, aber sie war bereits Mias Freundin. Also … versuchte ich, sie nicht zu lieben … bis sie eines Abends … mich fast geküsst hätte. Das veränderte alles. Danach wollte ich immer in ihrer Nähe sein.«
»Aber Mädchen dürfen so was nicht«, murmelte Grace undeutlich. Sie lutschte wieder am Daumen.
»Deine Großmutter würde darauf erwidern, dass Mädchen alles dürfen. Zumindest hat sie das meiner Schwester erzählt.«
Grace runzelte die Stirn. Daddy kam ihr so … schmalzig vor, und seine Augen glänzten. Er benahm sich, als würde er Mommy lieben, aber das war dumm, weil er gesagt hatte, sie würde ihn nicht mögen. Das war alles ganz komisch. »Aber sie wollte mich nicht«, sagte Grace. »Sie ist einfach weggegangen.«
»Manchmal können Menschen nicht selbst entscheiden, was
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