Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
unterrichten?«
»Hast du schon vergessen, wie es war, als ich dir in der sechsten Klasse bei Mathe helfen wollte?«
»Ein Desaster«, erwiderte Mia düster. »Aber jetzt würde es besser. Ich würde dich nicht mehr so anschreien.«
Jude strich ihrer Tochter über das weiche Haar. »Du kannst dich nicht vor dem Leben verstecken, mein Schatz.«
»Das will ich auch gar nicht. Nur vor der Highschool. Dort geht es zu wie im Haifischbecken, Mom. Ehrlich. Ich könnte Gliedmaßen verlieren.«
Jude musste unwillkürlich lächeln. »Siehst du? Du hast viel Sinn für Humor.«
»Das ist doch die übliche Vertröstung, wenn man hässlich ist. Vielen Dank, madre . Aber was soll’s! Ich hab ja sowieso keine Freunde.«
»Doch, hast du.«
»Nein. Zach hat Freunde, die sich bemühen, nett zu seiner Versagerschwester zu sein. Das ist was anderes.«
Jahrelang hatte Jude Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihre Kinder glücklich zu machen, aber diese eine Schlacht konnte sie nicht ausfechten. Es war nicht leicht, die schüchterne Schwester des beliebtesten Jungen in der Schule zu sein. »Ich hab ein Geschenk für dich.«
»Echt?« Mia setzte sich auf. »Was denn?«
»Pack’s aus.« Jude gab ihr das Päckchen.
Mia riss das Geschenkpapier auf, und ein dünnes Tagebuch mit pinkfarbenem Ledereinband und schimmerndem Messingschloss kam zum Vorschein.
»Als ich so alt war wie du, hatte ich auch ein Tagebuch, in das ich alles schrieb, was mir passierte. Es kann ziemlich hilfreich sein, alles aufzuschreiben. Du weißt doch, dass ich auch ziemlich schüchtern war.«
»Aber du warst hübsch.«
»Du bist auch hübsch, Mia. Ich wünschte, du könntest das sehen.«
»Ja, genau. Pickel und Spange sind jetzt der letzte Schrei.«
»Sei den anderen gegenüber einfach aufgeschlossen, Mia, ja? Es ist eine neue Schule, da werden die Karten neu gemischt, okay?«
»Mom, seit dem Kindergarten begegne ich nur denselben Kindern, daran wird auch eine neue Adresse nichts ändern. Außerdem hab ich versucht, aufgeschlossen zu sein … bei Haley, schon vergessen?«
»Das war vor über einem Jahr, Mia. Es ist nicht gut, wenn man sich an schlechte Erfahrungen hängt. Heute ist dein erster Tag auf der Highschool. Ein Neuanfang.«
»Ist gut.« Mia zwang sich zu lächeln.
»Gut. Und jetzt steh auf. Ich möchte früh in der Schule sein, um mit euch eure Schließfächer und dann eure Klassen zu suchen. Ihr habt Mr Davies in Geometrie. Ich möchte ihm noch sagen, wie gut du darin warst.«
»Du wirst auf keinen Fall mit in die Klasse kommen. Und mein Schließfach kann ich auch alleine finden.«
Jude wusste natürlich, dass Mia recht hatte, dennoch wollte sie nicht nachgeben. Noch nicht. Es konnte zu viel schiefgehen. Mia war zerbrechlich, ließ sich zu leicht aus dem Gleichgewicht bringen. Was, wenn sich jemand über sie lustig machte?
Es war die Aufgabe einer Mutter, ihre Kinder zu schützen – ob sie es nun wollten oder nicht. Sie stand auf. »Ich werde praktisch unsichtbar sein. Wart’s nur ab. Niemandem wird auffallen, dass ich überhaupt da bin.«
Mia stöhnte.
Z WEI
An ihrem ersten Schultag wachte Lexi früh auf und schlurfte durch den schmalen Flur zum Bad. Ein Blick in den Spiegel bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen: Sie war bleich, sogar leicht gelblich, und ihre blauen Augen waren blutunterlaufen und geschwollen. Anscheinend hatte sie wieder im Schlaf geweint.
Sie duschte kurz und lauwarm, um nicht das Geld ihrer Tante zu verschwenden. Es hatte keinen Sinn, die Haare zu fönen, da ihre lange schwarze Mähne sich ohnehin lockte und krauste, wie sie wollte, also band sie sie nur zu einem Zopf zusammen und ging zurück in ihr Zimmer.
Dort öffnete sie die Schranktür und starrte auf ihre spärliche Garderobe. Keine große Auswahl …
Was zog man hier an? War Pine Island wie Brentwood oder The Hills in Los Angeles, wo die Jugendlichen sich wie Avantgarde-Models kleideten? Oder eher wie East-L. A., wo Möchtegern-Rapper und Grunge-Anhänger die Klassen bevölkerten?
Es klopfte an ihrer Tür, aber so leise, dass Lexi es kaum hörte. Rasch machte sie ihr Bett, dann öffnete sie.
Eva stand auf der Schwelle und hielt ihr ein grell rosafarbenes Sweatshirt mit einem glitzernden Strassschmetterling auf der Brust entgegen. Die nierenförmigen Flügel waren lila, gelb und kleegrün. »Das hab ich dir gestern auf der Arbeit gekauft. Ich dachte mir, am ersten Tag in der Highschool sollte jedes Mädchen was Neues zum Anziehen
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