Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
Trost.«
Darauf hatte Lexi noch nie eine passende Antwort gewusst. Es war die übliche mitleidige Bemerkung aller Fremden, die sie aufgenommen hatten: die arme Lexi mit ihrer toten drogensüchtigen Mutter. Aber keiner von ihnen hatte wirklich gewusst, wie Mommas Leben war – die Männer, das Heroin, die Schmerzen, die Brechattacken. Oder wie schrecklich das Ende war. Nur Lexi wusste es, alles.
Sie starrte aus dem Fenster auf ihre neue Heimat. Sie wirkte abenteuerlich, grün und düster, selbst am helllichten Tag. Nach ein paar Meilen hieß sie ein Schild im Port George Reservat willkommen. Hier sah man überall die Hinweise auf amerikanische Ureinwohner. Orkawale, die auf Ladenschilder geschnitzt waren. Selbstgebaute Blockhütten auf zugewucherten Grundstücken, viele von ihnen mit rostigen Autos oder Gerätschaften im Vorgarten. An diesem Augustnachmittag zeugten überall leere Feuerwerksständer vom Unabhängigkeitstag, und auf einem Hügel mit Blick auf den Puget Sound blinkten die bunten Lichter eines Casinos.
Schilder leiteten sie zum Wohnwagenpark. Tante Eva fuhr durch den Chief Sealth Mobile Home Park und hielt vor einem gelbweißen Doppelwohnwagen. Im Nieselregen wirkte er irgendwie verschwommen und gedrückt. Traurig. Ein paar verwelkte Geranien in grauen Plastiktöpfen bewachten die Vordertür, die ostereierblau gestrichen war. Die karierten Vorhänge am Fenster wurden mit einer ausgefransten gelben Schnur zurückgehalten und bildeten durch ihre Aussparung eine Sanduhr.
»Es ist nichts Großartiges«, erklärte Tante Eva mit verlegener Miene. »Ich hab’s vom Stamm gemietet.«
Lexi wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Wenn ihre Tante gewusst hätte, wo Lexi schon gewohnt hatte, hätte sie sich für den hübschen kleinen Wohnwagen nicht entschuldigt. »Ist doch schön.«
»Komm«, sagte ihre Tante und machte den Motor aus.
Lexi folgte ihr über einen Kiesweg hoch zur Vordertür. Im Wohnwagen war alles peinlich sauber. Eine kleine, L-förmige Küche lag neben einem Essbereich mit einem gelb gesprenkelten Resopaltisch und vier Stühlen. Im Wohnraum waren ein kariertes Sofa und zwei Fernsehsessel aus blauem Kunstleder vor einem Fernsehgerät auf einem Metalltisch gruppiert. Auf einem Beistelltischchen standen zwei Fotos: Eins zeigte eine alte Frau mit Hornbrille, das andere Elvis. Es roch nach Zigarettenrauch und künstlichem Blumenduft. An fast jedem Knauf in der Küche hingen lilafarbene Raumdeos.
»Tut mir leid, wenn’s hier riecht. Ich hab letzte Woche erst aufgehört zu rauchen – als ich von dir erfahren habe«, entschuldigte sich Tante Eva und wandte sich zu Lexi um. »Passivrauchen ist gefährlich für Kinder.«
Lexi überkam ein seltsames Gefühl: flattrig wie ein kleiner Vogel und so fremdartig, dass sie es nicht gleich erkannte.
Hoffnung.
Diese Fremde, die ihre Tante war, hatte für sie aufgehört zu rauchen. Sie hatte Lexi aufgenommen, obwohl sie offensichtlich kaum Geld hatte. Sie sah die Frau an und wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus vor lauter Angst, damit etwas zu verderben.
»Ich kenn mich in diesen Dingen nicht aus, Lexi«, sagte Tante Eva schließlich. »Oscar – das war mein Mann – und ich hatten keine Kinder. Wir wollten zwar, kriegten aber keine. Also weiß ich nicht, wie man Kinder großzieht. Wenn du lieber …«
»Es wird schön werden. Versprochen.« Überleg es dir bloß nicht anders, bitte. »Wenn du mich behältst, wirst du es nicht bereuen.«
»Wenn ich dich behalte?« Tante Eva schürzte ihre dünnen Lippen und runzelte leicht die Stirn. »Da hat dir deine Momma aber was angetan. Kann nicht behaupten, dass mich das überrascht. Meiner Schwester hat sie auch das Herz gebrochen.«
»Das konnte sie gut«, pflichtete Lexi ihr leise bei.
»Wir sind eine Familie«, erklärte Eva.
»Ich weiß eigentlich nicht, was das bedeutet.«
Tante Eva lächelte, aber es war ein trauriges Lächeln, das Lexi schmerzhaft daran erinnerte, dass auch ihr Herz nicht unversehrt war. Das Leben mit Momma hatte seine Spuren hinterlassen. »Es bedeutet, dass du hier bei mir bleibst. Außerdem nennst du mich wohl besser ›Eva‹, denn mit ›Tante‹ fühle ich mich alt.« Sie wollte sich abwenden, aber Lexi fasste ihr dünnes Handgelenk und spürte, wie die samtweiche Haut bei ihrer Berührung zusammengedrückt wurde. Das hatte sie nicht gewollt, sie hätte es nicht tun sollen, aber jetzt war es zu spät.
»Was ist denn, Lexi?«
Lexi konnte das Wort kaum
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