Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
Gott, mach, dass es ihm gutgeht. Wie sollte sie sonst weiterleben?
Wie sollte sie ohne Mia weiterleben?
Jude stand an der Bahre und hielt Mias Hand. Sie wusste, dass um sie herum geschäftiges Treiben herrschte: Menschen kamen und gingen und unterhielten sich über »die Spenden«, als wäre Jude taub. Es gab jemanden, der Mias starkes, liebevolles Herz dringend brauchte, ein Junge, nur ein Jahr jünger als ihre Tochter, und einen anderen Jungen, der davon träumte, Baseball zu spielen … dann eine Mutter mit vier Kindern, die drohte, an Nierenversagen zu sterben, und sich nichts sehnlicher wünschte, als ihre Kinder zur Schule begleiten zu können.
Die Geschichten waren herzzerreißend und hätten Jude trösten sollen. Derlei Dinge waren ihr immer wichtig gewesen. Aber jetzt nicht.
Sollte Miles mit diesen Spenden seinen Frieden finden. Sie konnte es nicht. Sie hatte auch nichts gegen sie. Es war ihr einfach gleichgültig.
In ihrem Inneren war nichts mehr geblieben außer Schmerz. Sie behielt ihn für sich, hinter fest geschlossenen Lippen. Gott mochte verhüten, dass sie einmal anfing zu schreien.
Als hinter ihr eine Tür aufging, wusste sie, wer da kam. Miles hatte Zach geholt, damit er sich von seiner Zwillingsschwester verabschieden konnte. Leise fiel die Tür wieder hinter ihnen zu.
Jetzt waren sie unter sich, nur sie vier. Alle Ärzte und Spezialisten warteten draußen.
»Irgendwas stimmt nicht mit Mia«, sagte Zach. »Ich spüre sie nicht.«
Bei diesen Worten wurde Miles bleich. »Ja«, antwortete er. »Mia … hat es nicht geschafft, Zach.«
Jude wusste, dass sie zu ihrem Sohn gehen und für ihn da sein sollte, doch sie konnte sich einfach nicht rühren, konnte Mias Hand nicht loslassen. Wenn sie sie losließe, wäre Mia weg, und die Vorstellung, sie zu verlieren, war so überwältigend, dass sie sie von sich fernhielt.
»Sie ist t … tot?«, fragte Zach.
»Sie haben alles versucht, aber ihre Verletzungen waren zu schwer.«
Da fing Zach an, sich den Verband von den Augen zu reißen. »Ich muss sie sehen …«
Miles zog ihn in die Arme. »Nein, nicht«, bat er, dann brach ihm die Stimme. Beide, Vater und Sohn, weinten. »Sie liegt direkt vor dir. Wir wussten, du würdest dich von ihr verabschieden wollen.« Er führte Zach zur Bahre, wo seine Schwester lag, angeschnallt, mit einem weißen Laken bedeckt und von Maschinen am Leben erhalten.
Zach tastete nach der Hand seiner Schwester und hielt sie fest. Wie immer schienen sie zusammenzupassen wie zwei Puzzlestücke. Er beugte sich mit seinem verbundenen Kopf vor und legte ihn auf die Brust seiner Schwester. Er flüsterte ihren Kosenamen aus Kinderzeiten – »Me-my« – und fügte etwas hinzu, das Jude nicht verstand, wahrscheinlich ein Wort aus längst vergangenen Tagen, als sie sich noch in ihrer geheimen Zwillingssprache verständigt hatten. Damals hatte nur Zach mit ihnen gesprochen und die Kommunikation für seine Schwester übernommen … und so war es jetzt auch wieder.
Hinter ihnen klopfte jemand an die Tür.
Miles fasste seinen Sohn bei den Schultern und hob ihn von der Bahre auf. »Sie müssen sie jetzt mitnehmen, Zach.«
»Lasst sie nicht im Dunkeln«, sagte Zach mit heiserer Stimme. »Nicht ich hatte Angst vor der Dunkelheit, sondern sie.« Ihm brach die Stimme. »Aber es sollte niemand wissen.«
Mit dieser Erinnerung an das, was sie gewesen waren und was jetzt aufhörte, spürte Jude, wie ihr das letzte Fünkchen Mut schwand.
Lasst sie nicht im Dunkeln.
Jude drückte fest Mias Hand und klammerte sich so lange an sie wie möglich.
Miles und Zach kamen zu ihr und hielten sie fest. Sie drei stützten sich gegenseitig, hielten einander aufrecht.
Wieder klopfte es an der Tür.
»Jude«, sagte Miles mit tränenüberströmtem Gesicht. »Es ist Zeit. Sie ist fort.«
Jude wusste, was sie zu tun hatte, was alle von ihr erwarteten. Lieber hätte sie sich das Herz aus dem Leib gerissen. Aber sie hatte keine Wahl.
Also ließ sie die Hand ihrer Tochter los und trat zurück.
D REIZEHN
Jude hockte neben der OP -Tür im Gang. Irgendwann hatte sie den Halt verloren und war auf den kalten Linoleumboden gesunken. Jetzt saß sie dort zusammengekauert und presste ihr Gesicht an die Wand. Sie hörte, dass um sie herum Menschen kamen und gingen, von einem Trauma zum nächsten. Manchmal blieben sie auch stehen und sprachen sie an. Sie blickte hinauf in ihre Gesichter – ernst, mitfühlend und leicht abwesend – und versuchte zu verstehen,
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