Wie Champagner in den Adern
reichte Ayaz ein Messer.
Ayaz, so vollkommen im Gehorsam wie in ihrer Schönheit, nahm das Messer entgegen und fragte nur:
,Wie kurz soll ich es schneiden, Herr?'
,Kürz es um die Hälfte', befahl ihr der geplagte König.
Und sofort hob die Sklavin die Enden ihrer herrlichen Strähnen zu den Wurzeln hoch, setzte mit dem Messer in der Mitte an und schnitt es ab. Der König lobte sie für ihren Eifer, trank noch etwas Wein und fiel in den Schlaf.
Aber als die Sklavin am Morgen vor ihren König trat", fuhr Rafi fort und teilte geschickt Zaras verworrenes Haar, „ihrer wunderschönen Locken beraubt, war der König betroffen und wütend auf sich und die ganze Welt, dass er ihr so etwas befohlen hatte. Er versank in tiefe Trauer und war für niemanden mehr zugänglich.
Da machten sich seine Tafelgefährten und der Hofstaat Sorgen um ihn. Denn ein König, der unglücklich ist, kann für andere zur Gefahr werden. Sie machten sich Gedanken, was sie tun könnten, um die gute Laune des Königs wieder herzustellen. Zum Schluss begaben sie sich zu dem großen Dichter Unsuri. ,Schreib uns ein Gedicht, das den König milde stimmt, und trage es ihm vor', baten sie. Und so ging Unsuri zum König und verfasste für ihn ein Gedicht."
„Was war das für ein Gedicht?"
Rafi trug es ihr in einem rhythmischen, eindringlichen Tonfall vor, ähnlich wie es Motreb auf dem Fest getan hatte.
„Das klingt zauberhaft", bemerkte Zara lächelnd. „Ich fühle mich schon besser, und ich weiß nicht mal, was es bedeutet."
„In den vergangenen neunhundert Jahren haben mehrere Übersetzer versucht, es zu übertragen.
Wortwörtlich heißt es: ,Es mag ein Verbrechen sein, bei solcher Pracht ein paar Locken abzuschneiden, aber warum sollte das niederdrückend sein? Stattdessen solltet Ihr um Wein und Bier bitten und Euch freuen. Eine Zypresse ist eine größere Zier, wenn sie beschnitten wurde."
Zara zog enttäuscht die Nase kraus. Rafi bemerkte es sofort. „Ja, im Original klingt das Gedicht schöner. Ein moderner Dichter ist ihm gerechter geworden. Möchtest du es hören?"
Sie nickte.
Er begann es mit einem ausgeprägteren Rhythmus aufzusagen, als sie es im Englischen gewohnt war.
Es klang geradezu verführerisch.
Nachdem er geendet hatte, herrschte einen Moment Schweigen. Rafi zog den Kamm behutsam durch ihr langes Haar.
„Das klingt ... hübsch", hauchte Zara schließlich. Sie liebte Gedichte, aber sie war bisher keinem Mann begegnet, der eines so freimütig aufgesagt hätte. Oder sich offen zu den Gefühlen eines Dichters bekannt hätte.
„Ja", antwortete er.
„Würdest du es auch wollen, dass ich mein Haar abschneide?", fragte sie lächelnd.
Rafi ließ den Kamm fallen und lachte. „Niemals!" Er fasste mit der Hand in ihr Haar, kämmte es bis zur Taille durch und hob es an, so dass es im Kerzenlicht schimmernd über ihren Rücken herabfiel.
Zara wandte sich ihm zu und nahm den Kamm entgegen, den er ihr hinhielt. Langsam strich sie damit durch ihr Haar und hielt den Kopf zur Seite, so dass Rafi ihr Gesicht nur zur Hälfte sehen konnte.
„Lockt es dich nicht vom Pfad der Tugend?"
Er richtete sich auf und umfasste ihr Handgelenk. „Dein Haar ist mehr als verlockend für mich.
Zusammen mit ein paar anderen Eigenschaften an dir weckt es bei mir heftiges Verlangen. Aber du bist keine Sklavin und mir auch nicht verboten. Ich denke an Heirat. Das weißt du. Ich habe es dir gesagt."
Sie senkte den Kopf, so dass ihr Gesicht vollkommen verdeckt war, gab ihm aber keine Antwort.
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. An seiner Hand fühlte sie seinen Puls so deutlich wie ihren eigenen. Zuerst schienen es zwei einzelne Ströme, die sich für ein paar kräftige Schläge miteinander vereinten, dann aber wieder trennten wie die verschiedenen Stränge einer Melodie.
Plötzlich musste Zara gähnen. Ob aus Nervosität oder vor Erschöpfung, das wusste sie nicht. Eine der schlimmsten Qualen ihrer Gefangenschaft war, dass sie nicht durchschlafen konnte. Aber in Rafis Gegenwart fühlte sie sich nicht schläfrig.
„Es wird Zeit, dass du dich hinlegst", sagte er.
„Ist es sehr spät?", fragte sie.
„Ja, fast drei Uhr."
Zara war überrascht. Sie hatte geglaubt, es müsse Mitternacht sein. Gern hätte sie noch Stunden mit Rafi verbringen können, aber er musste das Lager vor der Dämmerung verlassen.
„Wie kommst du wieder hinaus?"
Rafi lächelte. „Ich werde erst wieder hier weggehen, wenn ich dich mitnehmen kann. Dafür
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