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Wie der Soldat das Grammofon repariert

Wie der Soldat das Grammofon repariert

Titel: Wie der Soldat das Grammofon repariert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sasa Stanisic
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»fletschen« zur Aprilsonne, wenn sie strahlt, ohne zu wärmen. Sogar die Rufe der Mütter klangen wie geflüstert: Abendessen! Die Großväter drängten ihre Köpfe dicht über ein kleines Transistorradio zusammen. Ich wünschte mir Opa Slavko hinzu. Was würde er sagen, jetzt, da alles zu unaussprechlicher Stille geworden war? Lange schon kam auch keine Musik mehr, immer redeten sie im Radio nur. Heiser sprach jetzt jemand davon, dass sich unsere Truppen von ihren Stellungen zurückzogen, um sich neu zu formieren. Schweigend stützten Großväter Ellenbogen auf Knie und Köpfe auf Hände, oder standen auf und stützten sich kopfschüttelnd auf ihre Stöcke. Alle fieberten mit unseren Truppen und den Stellungen unserer Truppen, obwohl niemand genau wusste, wer das war, diese unsere Truppen, und was das für wichtige Stellungen waren, die aufgegeben werden mussten. Erst als die heisere Radiostimme den Namen einer Stadt sagte, die genauso hieß wie unsere Stadt, wussten alle etwas. Auch ich wusste ein wenig – die heisere Stimme sprach »Višegrad« wie etwas aus, wovor man in keinem Versteck sicher war. Dieses Wissen war es, das in der Stille seine Zähne fletschte. Ich reihte die Murmeln aus meinen Taschen von hell nach dunkel auf dem Boden aneinander und trat mit der Sohle darauf. Jede Einzelne musste knirschen.

    Was wir sonst wissen sollten, das redeten uns die Mütter ein. Nur abgekochtes Wasser trinken, ab halb zehn in den Keller gehen, Čika Aziz’ C-64-Rekorde nicht überbieten. Als die heisere Radiostimme jetzt Višegrad sagte, und ich mich fragte, wie kann es sein, dass eine Stadt fällt, muss das nicht ein Beben geben?, wussten selbst die Mütter nicht, was zu tun war. Sie salzten die Erbsen und rührten im Topf.
    Draußen löste eine hupende Hochzeitsgesellschaft die Stille ab. Zoran, Edin und ich schlichen aus dem Keller hinaus – erst in das Treppenhaus, der vorsichtige Blick aus dem Fenster, dann in den Hof, dann auf die Straße –, niemand hielt uns auf, aber die Rufe der Mutter hörten wir bereits hinter uns. Was sollte das jetzt? Bräutigame mit Bart, oben Tarnjacke, unten Trainingshose fuhren vorbei. Geländewagen hupten, Lastwagen hupten. Eine Armee von bärtigen Bräutigamen fuhr vorbei, sie schossen den Himmel an und feierten, die Stadt zur Braut genommen zu haben. Auf den Wagendächern und den Motorhauben schaukelten Bräutigame im Takt der Straßenlöcher, die sie selbst ausgeschachtet hatten, morgens ab neun Uhr dreißig, neun Tage lang, jeden Tag. Die Hände hielten sie flach über die Augen, schielten darunter hervor, mieden die untergehende Sonne. Hinten hingen aus den Anhängern Beine in Grün und Braun, baumelten wie Zierde.
    Die ersten Panzer ziepten die Straße hinauf. Ihre Ketten hinterließen weiße Ritzen im Asphalt und machten, wo sie über Bürgersteige fuhren, Beton zu Kies. Es gab kein Halten mehr: wer ölt die denn, was quietschen die so?, rief ich, und schon rannten wir auf die Panzer zu – rennen, das konnten am schnellsten wir! Die Mütter griffen sich in die langen Röcke und klagten uns nach, so schnell eilten wir zu den Panzern. Ja, wer fährt die denn, wie sieht das Lenkrad aus und können wir mit? An den Gärten vorbeiklappern, an den Höfen vorbei, in denen Koffer standen und Menschen, die sie verzweifelt in Kofferräume pressten und auf Autodächer stapelten. Wie es wimmerte und trillerte unter diesen Metallfäusten – der Zeigefinger ausgestreckt! Was zerrieb die Faust,
was mahlte das Metall, was presste die Faust aus, wohin zeigte der Finger? Sogar die Brücke bog sich unter den Zahnrädern, ihre Bögen werden bersten, da ist Oma Katarinas Porzellan nichts dagegen. Im kleinen Park vor der Brücke, in dem die Statue von Ivo Andrić stand, bevor sie niedergerissen wurde, hielten wir an. Wir wollten hören, wie laut es würde, wenn die Brücke brach.
    Die Mütter schlossen zu uns auf, ich holte mir von meiner eine ehrlich gemeinte Ohrfeige ab. Sie wusste, dass ich den Panzern auch auf das andere Ufer gefolgt wäre. Mir dröhnte nach der Ohrfeige der Kopf, so wie von den Panzern die Ziegeldächer vibrierten. Ich hielt mir die Hand an die Wange, und hörte, wie die stählernen Hundertfüßler die Straße zu Staub raspelten.
    Die Brücke hielt.
    Edin am Ohr, mich am Ärmel zerrten uns die Mütter zurück in den Keller.
    Asija, meine Asija, war nicht mitgelaufen. Sie saß auf der untersten Treppenstufe, da sitzt man doch, wenn man keine Munition mehr hat,

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